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„Sweet Symphony“

oder: „Symphonie“

Prolog | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 | Kapitel 7 (in Arbeit)

Kapitel 3

“Memories”

 

Mrs. Lovette war nett. Wahnsinnig nett. Sie akzeptierte jeden Schüler, egal ob er Talent hatte oder nicht, egal wie er gestrickt war. Natürlich ist sie nach wie vor Lehrerin, aber mit den Fächern Kunst und Musik ist sie ganz gut bedient, denn da tickten die wenigstens Schüler aus, auch wenn ab und zu mal jemand aus der Reihe tanzte.

Im Gegensatz zu Musik hasste Abby Kunst. Sie konnte nicht zeichnen, war absolute Grobmotorikerin was das anging und bereute es Kunst überhaupt gewählt zu haben. Doch die Alternativen waren auch nicht berauschend gewesen, weshalb ihr nichts anderes übrig blieb als dieses Fach zu wählen. Wer hatte schon Lust auf irgendwelche Naturwissenschaften? Das war sicherlich nicht Sinn und Zweck einer „Kreativität fördernden“ Schule wie dieser, die diese Tatsache auch stets zu betonen wusste.

Als Abby exakt sechs Minuten zu spät an die Tür des Kunstraumes klopfte, öffnete ihr ein Mädchen, das sie nie zuvor gesehen hatte. Sie hatte schwarze Haare und dunkel geschminkte Augen, trug viel zu viel Make-Up, war aber eigentlich sehr hübsch. „Hi...“, sagte sie schüchtern, doch Abby hatte nichts weiter als ein Zucken ihrer Augenbraue für sie übrig. Offenbar leicht angeknackst stellte sich die Schwarzhaarige wieder vor die Klasse, neben einen Typen der ihr ziemlich ähnlich sah. Offenbar verfolgten die beiden den aktuellen Modetrend der Emos. Nun, zumindest das Mädchen. Der Junge war nicht geschminkt, insofern Abby das sehen konnte, während sie sich an eine der freien Staffeleien stellte und ihre Tasche auf den Boden legte. Gespannt wartete sie auf die Vorstellung der beiden Neuen (von der Spezies „Neue“ gab es dieses Jahr ganz eindeutig zu viele). „Gut, danke Jacob, danke Kim, ihr könnt euch an zwei freie Staffeleien stellen, wir beginnen heute mit der Landschaftsmalerei“, ertönte Mrs. Lovettes fröhliche Stimme hinter mir. Sie hatte die unangenehme Angewohnheit, die alle Kunstlehrerinnen hatten, immer im Raum herum zu laufen. „Und weil heute der erste Schultag ist, trage ich Miss Summer auch ausnahmsweise nicht ein!“, meinte sie über den Rand ihrer quietschgelben Brille hinweg und sah Abbigail dabei ernst an. Äußerlich betreten sah Abby zur Seite, doch innerlich stöhnte sie nach wie vor still vor sich hin, da sie beim Thema Landschaftsmalerei wohl kaum punkten würde. Es sei denn sie malte ein Porträt bei Nacht... doch wahrscheinlich würde sie sogar da irgendwelche Fehler machen. Während Mrs. Lovettes Ansprache hatte sich Jacob, dessen Nachnamen sie leider nicht mitbekommen hatte, links von ihr positioniert und das Mädchen eine Staffelei weiter. Kam es ihr nur so vor oder hatten es heute alle auf sie abgesehen?

Mrs. Lovette ließ zwei Schüler die Zeichenblöcke verteilen, während der Neue links von ihr seinen eigenen aus der Tasche holte und nach Vorgabe Mrs. Lovettes zu zeichnen begann. Während die zwei Schüler die Blöcke austeilten, hatte sie kurz erklärt was sie in zwei Wochen als Abgabe erwartete. Während dieser Ansprache hatte Abby nervös auf ihrer Unterlippe herum gekaut und nun wusste sie nicht mal, wie sie überhaupt anfangen sollte. Mr. „ich bin zu cool für einen Nachnamen“ zeichnete unterdessen drauf los und aus dem Augenwinkel beobachtete Abby dieses Schauspiel. Mrs. Lovette streifte inzwischen wieder zwischen ihnen umher, wie ein Wolf auf der Jagd.

 

Es gibt verschiedene Arten von Lehrern. Die, die herumlaufen und alles und jeden kontrollieren wollen. Sie haben immer alles im Blick, bei ihnen traut sich niemand zu pfuschen. Sie reden während sie umherlaufen. Dann gibt es die faulen Säcke, die einfach vorne hinter ihrem Pult sitzen und aus einem Buch vorlesen, das so alt ist wie der Lehrer, der sich in ein paar Jahren zur Ruhe setzen wird. Außerdem gibt es noch den Jungspund, der sich lässig aufs Pult setzt und lockeren Unterricht macht, das sind meistens die sympathischsten, doch die bleiben nur die ersten paar Jahre so. Dann haben sie keinen Bock mehr und werden entweder zu „Rumlaufern“ oder zu denen, die ständig an der Tafel kleben und alles anschreiben, was sie sagen. Zuletzt gibt es noch die Sorte von Lehrer, die sich engagiert mit Schülern unterhält, auch mal vom Thema abschweift und allgemein als Laberbacke bekannt ist. Oftmals sind solche Lehrer schwul oder aber sie sind notgeil und beugen sich mit Vorliebe zu Schülerinnen der Oberstufe hinab. Bei denen lohnt sich der Ausblick. Ach, und zu allerletzt gibt es die Lehrer, die einfach nichts tun. Sie lassen die Schüler Arbeitsblätter verteilen und beschäftigen sich dann mit den Todesanzeigen der Tageszeitung. Das sind Abby die Liebsten. Bei denen muss man sich wenigstens nicht so sehr anstrengen.

 

Sie nickte. Mrs. Lovette nickte. Sie nickte ihr anerkennendes Nicken, als sie an Jacobs Bild vorbei ging. Ihr leeres Blatt Papier hatte sie gar nicht erst beachtet. Das Schlimmste jedoch war, dass Abby nicht nur in ihrem Stolz verletzt war, sondern wusste, dass Mrs. Lovette völlig zu Recht die höchste Anerkennung verteilte, die sie je verteilt hatte. Der Neue zeichnete gut. Sehr gut. Er hatte unglaubliches Talent und das wurmte Abby. Ja, sie war eifersüchtig, gut. Und?

Gegen Ende der zweiten Kunststunde an diesem Tag hatte Abby es geschafft einen einzigen Baum zu zeichnen, der mehr Ähnlichkeit mit einem Kaninchen hatte als mit jedweder Art von Pflanze. „Du musst den Bleistift so halten“, ertönte auf einmal eine Stimme hinter ihr und eine warme Hand legte sich zaghaft auf ihre. Sofort verkrampfte Abby und zog die Hand ruckartig weg. „Was - ?“, setzte sie an und erkannte den Neuen. Der, der die Haare über seine Augen wachsen ließ und aussah wie ein Freak. Ohne Nachzudenken holte Abby aus und verpasste ihm eine Ohrfeige. Er zuckte nicht mal zusammen. Nur das Mädchen neben ihm tat es. Die Neue. Kim. Ihr traten die Tränen in die Augen, so als hätte Abby sie geschlagen. „Ich kann das allein, Dankeschön!“, sagte sie barsch und zu allem Überfluss schubste sie den gut 1,85 großen Typen weg. Er hatte absolut keine schlaksige Figur, doch ließ er sich wegschubsen und wenn Abby es nicht besser gewusst hätte, hätte sie gesagt, dass er betreten zur Seite geguckt hätte. Doch seine Augen sah man ja gottverdammt noch mal nicht!

Mrs. Lovette war mit einem anderen Schüler zugange gewesen, sodass sie absolut nichts mitbekommen hatte. Zum Glück, ansonsten hätte es ordentlich Tadel und Klassenbucheinträge gehagelt.

 

Nach dem Klingeln war Abby einfach aus dem Raum gegangen. Mrs. Lovette hatte noch Schüler gesucht, die die halbfertigen Zeichnungen einsammelten, doch Abby hatte nicht vor sich freiwillig zu melden. Stattdessen sah sie zu, dass sie nach Hause kam.

Eigentlich lag Abbigails Toleranzgrenze verdammt hoch. Sie ertrug viel, wenn der Tag lang war, doch heute wurde die Toleranzgrenze eindeutig ausgelastet. Erst die neue Pianistin, die sie an die kleine Abby vor sieben oder acht Jahren erinnerte, dann der neue Obermacho (Gott, wie sehr bereute sie es den überhaupt angestarrt zu haben) und dann die beiden neuen Freaks in ihrem Kunstkurs, von denen mindestens einer meinte, dass sie Hilfe bräuchte. Doch sie brauchte keine Hilfe, hatte sie noch nie. Sie hatte ihr Leben allein in den Griff bekommen, damals, als alles den Bach runter ging. Einfach weil damals niemand da gewesen war. Niemand. Ihre besten Freundinnen hatten sie sitzen lassen und waren nicht wieder gekommen. Von einem Tag auf den anderen waren sie verschwunden und hatten sich unter die Durchschnittstypen gemischt, sahen sie nicht mehr an und wenn sie es doch taten, dann mit Abneigung im Blick. Damals war sie in ein Loch gefallen und ihre drei besten Freundinnen wollten ihr raus helfen, wie Freundinnen das eben taten. Aber das war nicht einfach gewesen und irgendwann, irgendwann hatten sie einfach aufgegeben.

Abbys Schritt beschleunigte sich und mit einer energischen Handbewegung wischte sie sich die Tränen aus den Augen. Sie hasste es sich zu erinnern. Sie hasste es tiefer, als jeder Abgrund dieser Welt sein konnte.

 

Nach zwanzig Minuten Zugfahrt, während der sie sich auf alles konzentrierte, nur nicht auf die Vergangenheit, stieg sie mit hundert anderen Menschen aus dem Zug. Sie war einer von vielen, eines von vielen Individuen. Sie machte ihren Freundinnen mittlerweile keinen Vorwurf mehr. Sie hatte ihre Hilfe damals abgelehnt, oder zumindest nicht zugelassen. Abby war Einzelgängerin, sie machte alles im Alleingang und war der Meinung, dass diese Art und Weise zu leben ganz gut funktionierte. Man hatte keine Verpflichtung gegenüber Geburtstagen von falschen Freunden, man musste sich nur um sich selbst kümmern. Frei nach dem Motto: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht. Abbys Meinung nach gab es viel zu viele Aufopfernde. Leute die alles für irgendwen tun würden. So hatte Abby auch gedacht bis vor nicht allzu langer Zeit, aber sie wurde eines Besseren belehrt.

Auch wenn Abby gerne allein war, fürchtete sie das Alleinsein. Wenn man allein war wurde man mit Gedanken konfrontiert, die man nur zu gerne verdrängen würde. Man wurde mit Erinnerungen konfrontiert, die man lieber ausblenden wollte. Doch mittlerweile gelang es Abby sich abzulenken. Ihr Leben war der pure Stress, doch anders konnte sie nicht leben. Sie brauchte Stress, einen vollen Terminplan. Sie musste dauernd unterwegs sein, denn wenn ihr langweilig war, dann begann sie nachzudenken und zu philosophieren. Damit das nicht passierte hatte sie irgendwann begonnen zu schreiben. Bücher, Berichte, Kurzgeschichten. Die Romane schrieb sie nie zu Ende, immer gab es einen Einschnitt in ihrem Leben, der sie daran hinderte die Geschichte zu Ende zu schreiben. Vielleicht war es aber auch eine ihrer merkwürdigen Angewohnheiten, nichts wirklich zu Ende zu bringen. Sie las Bücher, die sie schon kannte, oftmals nur bis kurz vor dem Epilog – dann klappte sie den Buchdeckel zu und begann ein Neues. Sie hasste Enden, Enden waren nicht dazu da um aufgeschrieben oder erzählt zu werden.

Am Schlimmsten war die Zeit vor dem Einschlafen. Wenn Abby wach lag und aus Verzweiflung manchmal sogar Schafe zählte, nur um ihre Gedanken unter Kontrolle halten zu können. Und nachts träumte sie dann... sie träumte von dem, was passiert war. In letzter Zeit hielten sich die Albträume in Grenzen, seit ein paar Wochen waren sie ganz verschwunden – dachte Abby jedenfalls.

 

Mit einem breiten Grinsen im Gesicht strich Abby sich durch die kurzen, blonden Haare. Die Igelfrisur trug sie seit drei Jahren und nach wie vor war sie glücklich damit, eine Tatsache die ihre Mutter schockierte, denn sie war der engstirnigen Ansicht, nur Jungs dürften kurze Haare tragen. Die Sechzehnjährige schien verlegen, denn ihre Wangen liefen rot an und ihr Gegenüber lachte sie offenbar aus. Doch es war kein bösartiges Lachen, eher ein verständnisvolles Lachen, so als hätte Abby etwas Peinliches getan, das aber durchaus verständlich gewesen war. Im Gegensatz zu ihrem Gegenüber wirkte Abby klein und unscheinbar. Der junge Mann ihr gegenüber war neunzehn und in der Abschlussklasse. Er überragte Abby um anderthalb Köpfe, hatte braune, schlicht und einfach zerstrubbelte Haare und ein warmes Lächeln. Seine dunklen, braunen Augen fixierten Abby amüsiert, die sich nach wie vor verlegen am Kopf kratzte. „Weißt du, deshalb mag ich dich“, erwähnte er mit einem Bass in der Stimme, der Abby regelmäßig bis in den Bauchnabel ging und dort vor sich hin vibrierte. Eine Gänsehaut breitete sich über ihrem Körper aus, als er seine kräftigen Arme um ihren Hals legte, sie zu sich zog und Abby den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm in die Augen sehen zu können. Abby lächelte, nach wie vor mit roten Wangen, und wirkte nun noch verlegener als zuvor. Sie wollte ihm durch die Haare fahren, sein markantes Gesicht berühren – aber dann wandelte sich die Szene.

„Hopp, steig auf, ich fahr dich nach Hause!“, rief die Bassstimme aus der Dunkelheit. Das Bild hellte sich etwas auf und Abby bemerkte, dass sie im Regen stand, die Arme eng um den Körper geschlungen. „Spinnst du? Es ist dunkel und es regnet in Strömen! Ich kann daheim anrufen und hier übernachten!“, schlug Abby bibbernd vor Kälte vor, doch sie erntete lediglich ein mildes Lächeln. „So sehr ich mir das auch wünsche, aber dann schläfst du heute Nacht ja gar nicht. Komme Kleine, ich fahr dich heim!“.

Der Regen peitschte den beiden ins Gesicht, doch die zwei Räder unter ihnen drehten sich unablässig und sicher auf der nassen Straße. Abby hatte Angst. In ihrem Traum schlang sie die Arme sogar noch fester um die Taille des Fahrers als sie es in Wahrheit getan hatte.

Sie kam heil zu Hause an. Niemand verunglückte auf der Fahrt zu ihrem Haus, sie wurden lediglich nass. Sehr nass. Triefend stand Abby nach wenigen Minuten Fahrt im Wohnzimmer ihres Elternhauses, wo ihre Erziehungsberechtigten auf dem Sofa saßen und die 20.00 Uhr Nachrichten sahen. Abby sah nach draußen. Es war Herbst und stockduster draußen, hoffentlich passierte ihm da draußen nichts.

Nach einer kurzen Unterhaltung (wer hat dich nach Hause gebracht, wo warst du etc.) verschwand sie in ihrem Zimmer und zog sich trockene Sachen an. Das Bild verschwamm und in der nächsten Sequenz saß Abby auf ihrem Bett, einen Collegeblock auf den Knien, Hausaufgaben machend. Untern klingelte ein Telefon und sie hörte, wie ihre Mutter bestimmt eine Viertelstunde lang energisch mit irgendwem telefonierte. Ihr Vater konnte es nicht sein, der saß immerhin unten, vielleicht war es ihr Chef. Ihre Mutter hatte oftmals Stress mit ihrem Chef. Der Chef, der ein absoluter Volltrottel war und von dem Abby wusste, dass er seine Frau mit einer seiner Sekretärinnen betrog. Sie musste gähnen und legte Collegeblock und Stift beiseite. Während sie sich die Decke über die Beine zog klopfte ihre Mutter an die Tür, vermutlich, wie jeden Abend, um ihr gute Nacht zu sagen. „Abby?“, fragte sie in dem typischen „Kann ich reinkommen?“-Tonfall. Als sie eintrat sah Abby in Richtung Tür und hob überrascht die Augenbrauen, als sie das recht bleiche Gesicht ihrer Mutter sah. Sie wirkte schockiert – und ab dem Moment, in dem sie den Mund öffnete, verwandelte sich Abbigails Traum in einen Stummfilm.

 

Als sie aufwachte zitterte sie. Sie weinte nicht, sie schwitzte nicht, sie zitterte nur. Jeder Muskel ihres Körpers schien angespannt zu sein, so verkrampft hatte sie sich. „Oh man...“, stöhnte sie und versuchte sich zu beruhigen. Allmählich nervte es sie nur noch, dass die komischen Träume immer wieder kamen. Es tat nicht weh, es nervte, weil sie überflüssig waren. Sie wollte die alten Zeiten vergessen und neu anfangen. Vielleicht der Liebe wieder eine Chance geben und schauen, ob sich jemand finden ließ, der als potenzieller Partner in Frage kam. Und jetzt kamen die Träume wieder? Dankeschön. Müde fuhr sie sich durch die langen, blonden Haare und seufzte, ehe sie sich wieder hinlegte. Mit der Hand tastete sie nach ihrem Handy. 2.23 Uhr zeigten die leuchtenden Ziffern und erleichtert drehte sich Abby noch einmal um. Nicht selten kam es vor, dass sie um fünf Uhr morgens aufwachte und sich so fühlte, als hätte sie nicht geschlafen. Jetzt hatte sie immerhin noch ein paar Stunden um sich zu erholen.

Es waren traumlose Stunden. Der Stummfilm ging nicht weiter, weil Abby es sich selbst verbat. Sie träumte vielleicht von belanglosen Dingen, vielleicht träumte sie aber auch nichts. Vielleicht erinnerte sie sich aber auch einfach nicht mehr daran.