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„Sweet Symphony“

oder: „Symphonie“

Prolog | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 | Kapitel 7 (in Arbeit)

Kapitel 4

“Bizarre, fanciful and absolutely strange”

 

Abby frühstückte allein. Wie jeden Morgen. Ihre Mutter schlief, sie hatte diese Nacht gearbeitet. Im Krankenhaus. Sie war Krankenschwester und musste gestern Nachtschicht schieben. Auf der Intensivstation. Zum fünften oder sechsten Mal diesen Monat. Abbys Vater hingegen war schon seit ein paar Stunden auf dem Bau. Er war angesehener Ingenieur, aber dafür musste er auch ständig Überstunden schieben und hatte jede Menge Stress. Nicht gerade Abbys Traumberuf, aber sie kam ohnehin nicht nach ihren Eltern. Keine der beiden war musikalisch und schon gar keine Virtuosin, so wie Abby. Die beiden hatten nicht gerade viel Verständnis für ihre kreative Ader übrig. Sie bezahlten lediglich einen Haufen Schulgeld und wollten, dass sie später genug Geld verdiente, sodass sie es zurückzahlen konnte. Mr. und Mrs. Summer hatten noch nie ein enges Verhältnis zu ihrer Tochter gehabt, doch in den letzten Monaten hatte sie sich immer mehr isoliert und ihr eigenes Ding durchgezogen. Ihre Eltern akzeptierten zwar das, was sie tat, doch sie interessierten sich nicht dafür. Sie gaben allgemein Unmengen an Geld für ihre Tochter aus. Nicht nur für ihre Schulbildung, sondern auch für ihre Hobbies. Sie bezahlten ihr den Tanz- und Gitarrenunterricht und bis vor ein paar Jahren auch die Klavierstunden (Abby hatte mit dem Unterricht aufgehört, denn irgendwann brachte nicht mehr der Lehrer ihr, sondern sie dem Lehrer etwas bei). Als sie jünger war hatte sich Abby immer mehr Aufmerksamkeit gewünscht. Jetzt war sie froh, wenn sie sie mit den dämlichen Fragen: „Wie war es in der Schule?“ oder „Hast du was gelernt?“ in Ruhe ließen. Diese Interesse heuchelnden Fragen gingen ihr wirklich auf die Nerven. Mittlerweile kam sie gut damit klar, dass sie sich nicht für ihre kreative Ader interessierten, sie jedoch mit hunderten von Euros im Monat unterstützten.

Gegen sieben Uhr klingelte es plötzlich an der Tür. Das Marmeladenbrot noch in der Hand eilte Abby recht irritiert zur Tür und schluckte kurz runter, ehe sie die Tür öffnete. Ihr wäre beinahe die Kinnlade hinunter geklappt, als Mister Obermacho mit dem Ranzen in den Kniekehlen vor ihrer Tür stand und sie anlächelte. In der einen Hand noch das Marmeladenbrot sah sie ihn irritiert an. „Guten Morgen...?“, sagte sie und ließ es absichtlich fragend klingen, damit er ihre Irritation spürte. „Guten Morgen!“, entgegnete Joseph nur und ging an ihr vorbei, um das Einfamilienhaus der Familie Summer zu betreten. Perplex stand Abby an der Tür, schloss diese jedoch und ging dem perfekt gestylten Typen hinterher, der sich ganz cool umsah und den Flur inspizierte.

- „Kann ich irgendwas für dich tun?“, fragte Abby kühl und runzelte die Stirn.

- „Mach das nicht, das gibt Falten!“, entgegnete Joseph nur amüsiert und tippte ihr gegen die Stirn.

- „Du hast sie doch nicht mehr alle, Spinner!“

Alles was sie erntete war ein weiteres, amüsiertes Lächeln. Entnervt ging sie zurück in die Küche, ließ den Kerl im Flur stehen und beschloss ihn fortan zu ignorieren. Wie ein Wolf tapste er ihr hinterher und folgte ihr auf Schritt und Tritt, während sie die Überreste ihres Frühstücks wegräumte. „Ich dachte ich hol dich ab und wir fahren zusammen mit dem Zug zur Schule“, meinte er wie beiläufig und Abby hob überrascht beide Augenbrauen, während sie die Spülmaschine anstellte. Staunend drehte sie sich zu ihm um und ließ ein „Oh“ vernehmen. Sie wusste nicht genau, womit sie gerechnet hatte, aber sicherlich nicht damit, dass sie von diesem durchaus attraktiven Kerl zu Hause abgeholt werden würde. „Ähm okay“, fügte sie resignierend hinzu und bedeutete ihm kurz zu warten. Offenbar schreckte Joseph ihre distanzierte Art kein bisschen ab, denn er lächelte weiterhin selig und wartete geduldig auf Abby, die sich ihre Sandalen anzog, das Top zurecht zupfte, sich noch einmal durch die blonden Haare fuhr und sich dann vom Spiegel abwandte um sich ihre Tasche und ihren Haustürschlüssel zu schnappen. „Gut – dann los“, sagte sie und bedeutete Joseph vorzugehen. „Ladys first“, entgegnete er und öffnete Abby die Haustür. Überrascht, diese Überraschung jedoch nicht zeigend, ging Abby durch die Haustür und Joseph schloss sie hinter sich. Gequältes Schweigen breitete sich aus während sie zum Bahnhof gingen. Abby hatte nicht das Bedürfnis nach einem Gespräch und außerdem war es Josephs skurrile Idee gewesen, sie mitzunehmen. Abby hatte nicht mal gewusst, dass er in der Nähe wohnte, doch offenbar tat er das. Wo genau er wohnte interessierte sie herzlich wenig.

- „Wo waren deine Eltern eben?“, durchbrach Joseph plötzlich das Schweigen und sah zu ihr hinab.

- „Meine Mum liegt noch im Bett und mein Vater ist schon längst auf dem Bau“, formulierte Abby knapp und vermied es Josephs braune Rehaugen zu fixieren.

- „Hm“, machte er und nickte.

Es folgte wieder Schweigen, das erst durchbrochen wurde, als die beiden längst im Zug saßen und Joseph anfing Abby auszufragen.

- „Was hast du in der Ersten?“

- „Literatur“

- „Bei wem?“

- „Terrell“

- „Hm, kenn ich nicht“.

- „Du bist seit einem Tag an der Schule“, entgegnete Abby entnervt und rollte mit den Augen. Sie saßen einander gegenüber in einem Viererabteil. Niemand hatte das Bedürfnis verspürt sich zu ihnen zu setzen, was wohl sowohl an Abby, als auch an Joseph lag. Von überall her wurde Abby mit bösen, niederschmetternden Blicken der Mädchen bedacht und am liebsten wäre sie aufgesprungen und hätte gesagt: „Hey man, ich kann nichts dafür, ER hat mich abgeholt!“. Aber sie ließ es. Natürlich ließ sie es. Joseph hingegen war nach 24 Stunden das Gespräch der Schule. Alle Mädchen himmelten ihn an und alle Jungs hassten ihn, waren abgrundtief neidisch. Abby konnte es beiden Parteien nicht verübeln, immerhin konnte selbst sie nicht leugnen, dass er verdammt gut aussah und vermutlich nicht nur ab und zu mal trainierte um so auszusehen. Dazu die strubbeligen, braunen Haare, die ihn irgendwie verwirrt aussehen ließen. Kaputt. Als hätte er viel durchgemacht, seien es Alkohol oder Drogenexzesse. Und dazu der charmante Blick – ja, zugegeben, sie konnte es den Mädels nicht verübeln, dass sie neidisch auf sie waren. Vermutlich stand sie genau aus diesem Grund auch nicht auf und brüllte durch den Zugwaggon. Vermutlich. Nein, vermutlich wollte sie es einfach nur vermeiden Aufmerksamkeit zu erregen.

- „Bist du eigentlich gut in der Schule?“, fragte er wieder.

- „Was ist das bitte für eine Frage?“

- „Keine Ahnung...“

- „Jo“.

- „Wie jo?“

- „Naja ich bin ganz gut in der Schule, wieso fragst du?“

- „Weiß nicht, um das Gespräch am Laufen zu halten?“, meinte er und setzte wieder das amüsierte Lächeln auf, während er sich zurück lehnte und zwei Mädchen hinter Abby schmachtend seufzten. Energisch drehte sie sich zu den beiden um und fluchte: „Man könnt ihr vielleicht mal aufhören? Ihr seid ja grauenhaft!“. Mit genervtem Gesichtsausdruck wandte sie sich wieder Joseph zu, der ihr respektvoll zunickte, doch Abby sah nur genervt aus dem Fenster.

- „Sie nerven“, stellte Joseph fest.

- „Hm?“

- „Die Mädels, sie nerven“, sagte Joseph etwas leiser, sodass die Clique hinter Abby (die übrigens nun schwieg) nichts hörte.

- „Kann ich mir vorstellen“, entgegnete sie.

- „Ich kann mir vorstellen, dass du dir das vorstellen kannst“ – und wieder ein Lächeln.

- „Warum – ?“, wollte Abby fragen, doch sie wurde von einem kräftigen Rucken unterbrochen. Der Zug hielt, Joseph zwinkerte ihr zu und in Abby löste das ganze einen ungemeinen Brechreiz aus.

Abby verdrängte die Frage. Es war ihr egal. Nein, in Wahrheit tanzte die Frage noch den ganzen restlichen Tag in ihrem Kopf rum.

- „Wie alt bist du eigentlich?“, fragte Joseph interessiert, während die beiden nebeneinander her auf den großen Gebäudekomplex zugingen. Normalerweise hätte Abby geantwortet: „Man fragt Frauen nicht nach ihrem Alter“, doch sie verzichtete aufs Klugscheißen und antwortete stattdessen: „Siebzehn“.

- „Mh, ich bin neunzehn. Erst mit sieben eingeschult, dann sitzen geblieben“.

Interessieren tat Abby das beim besten Willen nicht. Kein Stück und trotzdem hörte sie ihm zu. Währenddessen konzentrierte sie sich auf ihre Zehen und hatte nicht vor allzu viel von ihrem Umfeld mitzubekommen. Sie würde heute ohnehin das Gespräch der Schule sein, egal wie man es drehte und wendete.

- „Sag mal bist du eigentlich immer so kühl?“

Überrascht sah Abby auf. Dass sie derart abweisend war, war ihr nicht bewusst gewesen. Die braunen Augen in die sie sah wirkten wirklich in verletzt. Ob das nun gespielt war oder nicht. Und wenn es das war, war es verdammt überzeugend. Statt einer Antwort jedoch zuckte Abby nur mit den Schultern.

- „So lebt es sich nicht einfach, glaub mir!“, riet Joseph ihr und Abby verlor endgültig die Nerven.

- „Mich hat keiner gefragt, ob ich überhaupt leben will, also hat mir auch keiner zu sagen, wie“. Perplex starrte Joseph Abby an, doch sie flüchtete lediglich durch die große Flügeltür in die Aula der Schule und verschwand aus seiner Sicht. Doch schnell hatte Joseph sein Pokerface wieder aufgesetzt und fand sich in einer Gruppe schwärmender Mädchen wieder.

 

Mr. Terrell war selbstverständlich begeistert, wie immer. Er liebte sein Fach und ging voll und ganz darin auf. Nichts konnte ihn aus seiner Euphorie bringen und eigentlich war er Abby ganz sympathisch. Sie hatte jedenfalls nichts gegen ihn auszusetzen, obwohl er ab und zu ein wenig zu enthusiastisch an den gesamten Unterrichtsstoff ging. Am ersten Tag mit seinem Zwölferkurs war das nicht anders. Außerdem verpasste es seiner Begeisterung noch einen zusätzlichen Aufschwung, dass Abby ausnahmsweise pünktlich erschien. Im letzten Jahr hatte es auf ihrer Abwesenheitsliste im Klassenbuch ausgesehen wie auf einem Friedhof.

- „Guten Morgen Klasse!

- „Guten Mor-“

- „Dieses Jahr lesen wir einen weltberühmten Klassiker von Shakespeare, hach da warte ich schon seit Jahren drauf! Ein Kunstwerk der Literatur! William Shakespeare veröffentlichte diese Tragödie 1597 und seitdem ist sie eine der berühmtesten Liebesgeschichten der Weltliteratur! Wer weiß von welchem Stück ich spreche?“

Einheitlich hob der gesamte Kurs die Hand.

- „Ja?“

- „Romeo und Julia“, sagte die ganze Klasse einheitlich monoton und einige stöhnten auf. Viele von ihnen hatten das Stück längst gelesen, auswendig gelernt oder viel zu oft durchgekaut, als dass es noch spannend sein konnte... „Genau! Genau! Sehr gut! Seit Generationen besteht Feindschaft zwischen den Capulets und den Montagues, es gibt ein Kostümfest der Capulets und der Montague Romeo schleicht sich unbemerkt auf dieses Fest – Liebe auf den ersten Blick als er die schöne Tochter der Capulets erblickt! Das größte Liebespaar der Weltliteratur ist geboren! Die beiden lassen sich vom Mönch Lorenzo trauen und er erhofft sich so sehnlich die Versöhnung der beiden Familien. Doch dann –“

- „Entschuldigung“, tönte es plötzlich von der Tür her. Mr. Terrell hatte so enthusiastisch eine Kurzzusammenfassung des Buches gegeben, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie es geklopft und eine Schülerin die Tür geöffnet hatte. In der Tür stand Jacob, der Typ aus Abbys Malkurs. Hastig stellte Abby ihre Tasche auf den leeren Platz neben ihr und tat so, als würde sie ihn nicht beachten.

- „Setz dich – äh – irgendwo hin…”, sagte Mr. Terrell und schien nach dem Namen des zu spät Kommenden zu suchen.

- „Jacob“, sagte dieser schnell und steuerte dann zielgenau auf den Platz neben Abby zu. Mr. Terrell erzählte weiter, ohne den Faden zu verlieren. Der Neue nahm vorsichtig Abbys Tasche und stellte sie sachte auf den Boden neben Abbys Stuhl, ehe er sich setzte und seinen Notizblock herausholte. Abby erhaschte einen Blick auf das selbst designte Cover. „Jacob Angel“, stand dort in filigraner Handschrift. Er hieß also Angel? Mit den schwarzen Haaren, die ihm tief in die Stirn hingen, sah er gar nicht so aus wie ein Engel.

- „Shakespeare?“, fragte er die immer noch perplexe Abby, die ihn wie einen Geist angestarrt hatte. Sie versuchte zwischen den Haaren hindurch seine Augen zu sehen – vergeblich. Als sie bemerkte, dass sie Jacob anstarrte, wandte sie sich hastig ab und nickte knapp. Good frend, for Jesus' sake forbeare. To digg the dust encloased heare. Blest be the man that spares thes stones, and curst be he that moves my bones”, zitierte er und Abby sah ihn verwirrt an. Seine Mundwinkel zuckten, als er ihren verwirrten Gesichtsausdruck bemerkte. Doch er beantwortete ihre ungestellte Frage nicht.

- „Das kommt mir bekannt vor, was ist das für ein Zitat?“, fragte Abby.

- „Die Zeilen auf seinem Grab. Vermutlich von ihm selbst geschrieben“, murmelte Jacob gedankenversunken und starrte vor sich auf den Tisch. Wortlos wandte sich Abby wieder ihrer Seite des Tisches zu und schwieg den Rest der Stunde. Sie mussten sich Mr. Terrells Vortrag über Romeo und Julia bis zum Ende der Stunde anhören. Dann ließ er sie alle die ISBN-Nummer des Buches aufschreiben und verlangte, dass auch diejenigen, die noch ein altes Buch daheim hatten, sich eines zu kaufen. Denn „jeder neue Abschnitt verlangte nach etwas Neuem“, zitierte er zum wiederholten Mal in dieser Stunde irgendeinen wahnsinnig berühmten Philosophen und entließ sie dann in die Pause. Während Abby ihre Sachen zusammenpackte ergriff Jacob wieder das Wort. „Wie heißt du eigentlich?“, fragte er vorsichtig und wirkte unsicher. „Abbigail, aber nenn mich Abby“, sagte sie und rang sich zu einem Lächeln durch. „Abbigail“, murmelte Jacob, doch Abby berichtigte ihn: „Abby“. Er zuckte überrascht und schockiert zugleich zusammen, doch anstatt Mitleid mit ihm zu haben, schüttelte Abby den Kopf und verschwand aus dem Klassenraum. 

 

„I love Mike“, „Ich war hier, 20.10.89“, „Schule ist scheiße!“, „Mrs. Lovette ist eine Bitch“. Abby fuhr gedankenversunken mit den Fingerkuppen über die eingeritzten Buchstaben auf der Bank, auf der sie saß. Ihre Bank. Vielleicht würde sie etwas dazuritzen... irgendwann. „Meine Bank, Jenny B.“. Abby musste lächeln, als sie die eingeritzten Worte fand. Das Datum darunter war alt, aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass diese Jenny B. ihr bestimmt sehr ähnlich war. Eine verkorkste Person, die der Liebe abgeschworen hatte und so. Nun gut, so viel konnte man in ein paar eingeritzte Worte nicht interpretieren, aber Abby interpretierte allgemein zu viel in Dinge hinein. Joseph zum Beispiel. Genau in Sichtweite unterhielt er sich wie in einem Stummfilm mit einer Gruppe Mädchen aus ihrer Stufe. Unter seinen Verehrerinnen waren jedoch nicht nur Mädchen aus ihrer Stufe, oder aus der Elf. Wenn sogar die Siebtklässlerinnen begannen ihn anzuhimmeln, dann war das einfach zu viel für Abby. Das Schlimmste jedoch war, dass dieser Typ auch noch meinte, jede haben zu können. Man sah ihm an, mit welchem Spaß er mit ihnen spielte und ihnen Komplimente machte, wo es nur ging. Zudem hatte die Tatsache, dass die beiden heute gemeinsam zur Schule gefahren waren, einige unangenehme Folgen. Die Hälfte der Schule starrte sie an, abwertend und mit einem Bösen Funkeln in den Augen. Die andere Hälfte war männlich und starrte voller Neid auf Joseph. So ungefähr lautete die Aufteilung. Nur einige, wenige sah sie gar nicht. Zum einen Kim, die sie seit Kunst gestern nicht mehr gesehen hatte. Und Jacob, der Engel, der, wenn sie es zugab, nicht so schlimm war, wie sie angenommen hatte. Es war der zweite Schultag. Der zweite! Und schon verletzte Abby ihre Prinzipien. Sie hatte sich heut Morgen von zu Hause abholen lassen, von dem mit Abstand heißesten Typen der Schule, auch wenn sie diese Tatsache kalt gelassen hatte, was nicht sonderlich erstaunlich war (das war der erste Fehler) und sie hatte viel zu viel negative Aufmerksamkeit erregt (zweiter Fehler). Und zuletzt hatte sie mit diesem komischen Jacob geredet. Als er ihre Tasche weggestellt hatte, hätte sie einfach nur „Nein“ sagen müssen. Der Geist dieses Typen war vermutlich derart verkümmert, dass er zusammengezuckt und abgehauen wäre. Immerhin waren auch noch andere Plätze frei, aber nein, er musste sich ausgerechnet neben sie setzen. Abby verdrehte die Augen und musste wirklich schizophren wirken, wie sie da eine stumme Auseinandersetzung mit sich selbst führte und dazu passende Gestik und Mimik zeigte. Stumm. So wie alles um sie herum. Die Musik, die in ihre Ohren spielte, beruhigte sie ein wenig und schaffte ein wenig Klarheit in ihrem Kopf. Dieses Jahr hatte sie eigentlich einen Neuanfang geplant. Sie wollte nicht mehr so verklemmt leben wie die letzten zwölf Monate. Doch das war schwieriger als sie gedacht hatte. Kaum war sie wieder unter Menschen, nachdem sie sich sechs Wochen lang fast völlig isoliert hatte, wurde sie mit Gefühlen überschüttet, die sie allesamt nicht verstand. Das machte die Sache nicht unbedingt einfacher.

Der Schulhof leerte sich. Und Abby blieb sitzen. Wie immer. Als sie realisierte, wieso sie sitzen blieb, durchzuckte es sie wie ein Blitz und sie sprang auf, um pünktlich zu kommen. Während sie durch die recht leeren Flure rannte und immer zwei Treppenstufen auf einmal nahm, rannte sie beinahe ein Mädchen mit blond gefärbten Haaren um. „Oh hey Abby!“, schallte eine fröhliche, laute Stimme durchs Treppenhaus. Abby zuckte zusammen und drehte sich hektisch um. „Kathrin...“, stellte sie fest und rang sich zu einem Lächeln durch. Das erste gespielte Lächeln an diesem Tag. Dabei wollte sie doch neu anfangen...

Nach einer sehr langweiligen Stunde Musik, in der Abby nicht viel zu tun hatte, da Mrs. Lovette ihr in diesem Fach ohnehin die beste Note der Klasse geben würde, und nach der eintönigen Pause, die so einsam verlief wie immer, stand Abbys verhasster Englischkurs auf dem Programm. In ihrem Kurs waren viele Leute aus dem Orchester, nicht unbedingt ein Zufall, doch Abby besaß ein perfektes Gehör. Sie konnte, wenn sie einen Ton vorgespielt bekam, diesen benennen und bei zwei Tönen sofort sagen, wie weit die beiden auseinander lagen. Auf Anhieb. Doch neben dieser recht langweiligen Fähigkeit hatte der Liebe Gott ihr auch eine sehr schöne Singstimme gegeben. Im Gegensatz zu Kunst war Musik also genauso langweilig, aber wenigstens hagelte es hier bessere Zensuren.

Pünktlich stand Abby in der recht übersichtliche Gruppe Schüler, die zu Mr. Eagles Kurs gehörten. Mr. Eagle war ein Arschloch. Er hatte lange, knochige Finger, einen viel zu langen Hals, war dünn und klapprig und alles in allem einfach nur widerwärtig. Er starrte Mädchen in den Ausschnitt, bevorzugte dabei die erste Reihe und hatte eine absolut dämliche Art zu unterrichten. Besagter Herr kam. Er war wie immer zehn Minuten zu spät und behauptete am Ende der Stunde stets, er hätte die ersten zehn Minuten des Unterrichts aufgrund des Lärmpegels in der Klasse nicht unterrichten können, und hängt diese dann hinten dran, sodass Abby regelmäßig ihren Zug verpasste. Während Eagle die Tür aufschloss, hörte Abby hinter sich jemanden rennen. „Puh, doch nicht zu spät. Man diese Mädels nerven vielleicht“, keuchte Joseph und Abby verdrehte hoffnungslos die Augen, als er gerade nicht hinsah. Als eine der letzten betrat sie den Raum und musste feststellen, dass nur noch Plätze ganz vorne frei waren. Skeptisch blickte Abby auf ihr Top und allmählich war ihr wirklich hundeelend zumute. Joseph und Abby setzten sich also nebeneinander in die erste Reihe und ließen Mr. Eagle mit seinen skurrilen Unterrichtsmethoden beginnen. Grundsätzlich verständigte er sich hauptsächlich mit sehr, sehr lauter Stimme. Abby, die das gewohnt war, seufzte nur in sich hinein. Joseph hingegen zuckte abrupt zusammen, sodass Abby grinsen musste. Sie hatte lange nicht mehr ehrlich gegrinst, aber dieses Mal hatte sie einen triftigen Grund. Allein Josephs Gesichtsausdruck war es wert zu lachen. Er sah richtig geschockt aus. „Oh man, redet der immer so laut?“. Ehe Abby warnend den Finger auf die Lippen legen konnte, schlug Eagle mit der flachen Hand auf Josephs Pult, woraufhin dieser zum zweiten Mal zusammenzuckte. „Und wer bist DU?“, brüllte Eagle ihn an. „Ehh – Joseph Diao“, antwortete er. „Oh wow, er ist so süß wenn er seinen Namen sagt“, ertönte es ein wenig zu laut aus der letzten Reihe und Abby, Joseph und Eagle drehten sich perplex um, genauso wie der Rest der Klasse. Kate lief rot an, als sie begriff, dass sie wohl ein wenig zu laut gesprochen hatte... und Abby war nicht die einzige, die laut lachen mussten. „RUHEEEE!“, brüllte Mr. Eagle und lief hochrot an. Josephs Bestrafung vergaß er, denn für gewöhnlich musste er jetzt einen Aufsatz (auf Englisch) zum Thema: „Warum ich nicht über Lehrer lästern darf“ schreiben. Doch dank Kates Kommentar blieb ihm das erspart. Statt sich jedoch zu freuen oder erleichtert zu reagieren, lief er rot an und sah konzentriert nach vorne. Er hatte nicht gelacht. „Aha. Ist dir das peinlich?“, fragte Abby ihn arrogant, als Eagle sich zum Abreagieren an die Tafel stellte und begann etwas anzuschreiben. Er gab keine Antwort, sondern rümpfte die Nase und holte einen Collegeblock aus seiner Tasche. „Joseph Diao“ stand darauf. Mit schlampiger Handschrift. Resignierend hob Abby eine Augenbraue, da gefiel ihr Jacobs Cover zehnmal besser. Vor allem weil er jede Menge Notenlinien und -schlüssel, einfache Noten und so einiges mehr verschnörkelt auf sein Cover gezeichnet hatte. Abby hatte Respekt vor jeder Art von Kunst, auch wenn sie nicht jede Art von Kunst beherrschte. Im Gegenteil. Gerade das Zeichnen beherrschte sie absolut nicht und doch, so musste sie heute feststellen, war das kein Grund es zu hassen. Mittlerweile tat es ihr Leid, dass ihr gestern die Hand ausgerutscht war. Doch Jacob würde ihr das wohl kaum übel genommen haben, so was passierte doch jedem mal.

Kunst. Ja, Kunst war auch so eine Sache. Was bezeichnete man eigentlich als Kunst? Abby war der Auffassung, dass Kunst im Kopf entstand. Kunst war nicht das Endergebnis, sondern eine Art zu denken, die man nicht genau beschreiben oder definieren konnte.

Das schrille Klingeln der Schulglocke riss sie aus ihren Gedanken. Alle hatten, wie gewohnt fünf Minuten vor Unterrichtsende, ihr Zeug zusammen gepackt und sprangen jetzt auf. Mr. Eagle sagte ausnahmsweise nichts, hängte keine Unterrichtszeit dran und beschwerte sich auch nicht. Eigentlich war das nicht seine Art... merkwürdig. Abby bemerkte, dass alle um sie herum ihr Zeug eingepackt hatten und nun aus der Tür hasteten, also beeilte sie sich ihre eigenen Sachen zusammenzusuchen und bemerkte erst nach ein paar Sekunden, dass Joseph vor ihrem Tisch stand, die Hände in den Taschen, wartend auf die letzte Person im Raum (abgesehen von Mr. Eagle). „Beeil dich, wir verpassen den Zug“, meinte er und sah sie ernst an. „Wir?“, wiederholte Abby irritiert, während sie ihre Tasche schulterte und den Stuhl hochstellte. Joseph ließ dieses Wort einfach unkommentiert im Raum stehen und wartete geduldig.