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„Sweet Symphony“

oder: „Symphonie“

Prolog | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 | Kapitel 7 (in Arbeit)

Kapitel 6

“Stones, mistakes and Jacob”

 

„Da kommt ja Josephs neue Freundin!“, hörte man es durch den gesamten Korridor schallen. Abby verdrehte innerlich die Augen und blieb äußerlich kühl, als Kate sich, die Hände in die Hüften gestemmt, vor sie stellte und herablassend ansah. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen, Schlampe?“, fragte sie bissig. Als sie Abby beleidigte horchte diese auf – war das ihr Ernst? Wenn ja, dann war sie wirklich dreister, als Abby gedacht hatte. „So ein arrogantes Außenseiterkind wie du sollte die Finger von den heißen Typen lassen!“, warf Kate der nach wie vor schweigenden Abby vor. Hinter ihr standen drei weitere Mädchen. Jenny, Sue und Sarah. Und alle vier starrten mit einem derart herablassend Blick auf Abby hinab, dass ihr zum Heulen zumute war. Für gewöhnlich hatte Abby kein Problem damit, wenn andere ihr Beleidigungen ins Gesicht klatschten, aber bei den Vieren war das etwas anderes. Nicht etwa, weil sie ein größeres Ansehen in der Klasse besaßen, als Abby es jemals besitzen würde. Auch nicht, weil sie stets die neusten Markenklamotten trugen und zu allem Überfluss auch noch gut aussahen... „Wir waren mal Freundinnen, Kate“, sagte Abby ein wenig leiser als gewöhnlich. Kates Augenbrauen zuckten kurz und ihr wütender Gesichtsausdruck verwandelte sich in eine eiserne Fassade.

 

„Abby? Abby?“. Unten an der Tür polterte es, doch Abby wollte eben dieses Poltern nicht hören. Sie wollte gar nichts hören, sie wollte einfach nur noch sterben. Am besten einsam und allein. „Lass mich!“, murmelte sie in ihr Kissen hinein, auch wenn sie genau wusste, dass Kate das nicht hören konnte. Ihre Eltern waren nicht zu Hause, Abby war allein. Sie wollte allein sein, nichts von der Welt sehen und so ziemlich alles ausblenden, was draußen geschah. Als das Poltern nicht aufhörte, riss Abby das Fenster ihres Zimmers auf und steckte den Kopf aus dem Fenster. „Verdammt verschwinde, lass mich einfach in Ruhe!“, brüllte sie hinunter in den Regen. Das Poltern hörte auf und Abby sah eine zögernde Kate im warmen Sommerregen stehen und langsam von der Tür zurücktreten.

Am nächsten Tag ließ ihre Mutter Jenny und Sue ins Haus. Sie tapsten leise die Treppe hinauf und klopften zaghaft an Abbys Zimmertür. Abby saß an ihrem Schreibtisch, über einen Haufen Hausaufgaben gebeugt. Hausaufgaben und freiwillige Arbeiten – nur um sich abzulenken. „Keine Zeit, Hausaufgaben“, gab sie knapp zur Antwort. „Wir haben einen Kuchen für dich gebacken, lass uns doch bitte rein“, bettelte Sue und die beiden klopften erneut. „Abby, das Leben geht weiter, jetzt lass uns rein!“, fügte Jenny hinzu. „Das ist das Problem“, murmelte Abby. „Was, was hast du gesagt?“, rief Jenny durch die verschlossene Tür. „Verschwindet!“

Als Abby gegen Abend ihr Zimmer verließ um etwas zu essen, trat sie beinahe in den Kuchen, der vor ihrer Tür stand. Entnervt nahm sie das Ding mit die Treppe hinunter. „Abby“, stand mit Zuckerguss darauf geschrieben. Das Ding hatte Herzform. Allein das war Grund genug es in die Mülltonne zu kloppen.

- „Abby, Schatz, möchtest du was essen?“, fragte ihre stets besorgt dreinschauende Mutter. Anstatt zu antworten öffnete Abby mit einem Fuß den Mülleimer und ließ den Kuchen langsam hinein gleiten. Dann klappte sie den Deckel zu und ging zum Kühlschrank.

- „Abby, Kleines!“

- „Man, Mum, wieso lasst ihr mich nicht alle einfach in Ruhe? Ich brauche keine Hilfe!“

 

„Ich brauche keine Hilfe...“, genau das gleiche hatte sie gestern auch zu Joseph gesagt. Plötzlich tat er ihr Leid, denn immerhin hatte er nur nett sein wollen. „Freunde“, schnaubte Kate. „Du hast doch gar keine Ahnung von Freundschaft!“. Schweigend wandte Abby sich ab. Es war sinnlos ihnen zu erklären, dass Joseph sie abgeholt hatte. Dass er auf sie gewartet hatte nach Englisch. Es war sinnlos, denn sie würden es nicht verstehen. Für die vier gab es keine Freundschaft zwischen Mädchen und Junge, sondern nur Liebe. Rose Herzchen und all so was. Es war lange her, dass Abby an so etwas gedacht hatte.

„Guten Morgen Abby“, ertönte Josephs Stimme plötzlich von hinten. Was für ein unpassendes Timing. „Morgen Kate, Sue, Jenny und... äh du da“, begrüßte er auch die anderen und gesellte sich zu ihnen. Einerseits war Abby erleichtert, dass er es bei einer Begrüßung beließ und sie nicht hemmungslos zuquatschte – andererseits hatten Kate und Co. Erreicht, was sie wollten und waren fürs Erste damit beschäftigt Joseph anzuhimmeln. Irgendwie versetzte Abby das einen Stich und sie wandte sich ab um sich nicht übergeben zu müssen. Innerlich fragte sie sich, wie lange es wohl dauern würde, bis Kate und Joseph das Pärchen der Schule werden würden und irgendwo gönnte sie es den beiden auch. Sie hatten beide das gleiche Image, nämlich das einer angesehenen, gutaussehenden und angesagten Person.

In Mathe saßen die beiden nebeneinander und Abby musste neben Sue sitzen. Diese pflegte es grundsätzlich sie zu ignorieren, seitdem Abby damals ihren Kuchen in die Mülltonne befördert hatte.

Selbst im Mathegrundkurs hatte Abby Schwierigkeiten den Stoff zu verstehen. Für dieses Jahr würde sie wohl einen neuen Nachhilfelehrer brauchen, denn der von letzten Jahr war in der Dreizehn gewesen und nun nicht mehr an der Schule. Logisches Denken war absolut nicht Abbys Stärke, also versuchte sie im Matheunterricht so gut wie möglich mitzuarbeiten und alles zu verstehen. Die Tatsache, dass sie neben Sue saß, so dachte sie, machte das einfacher. Allerdings hatte sie sich getäuscht. Keine fünf Minuten nach Unterrichtsbeginn fing Sue an sie auszuquetschen. Leise flüsternd fragte sie: „Du hängst doch oft allein mit Jo rum, oder?“. Abby, die mitschrieb was Mrs. Wood an die Tafel schrieb, stockte. Hatten sie ihm jetzt etwa schon einen Spitznamen gegeben? An seinem dritten Schultag? „Möglich“, gab Abby kurz angebunden zurück und schrieb weiter. Voller Enthusiasmus (der Enthusiasmus einer Dreizehnjährigen und nicht der einer Siebzehnjährigen) hüpfte sie auf ihrem Stuhl auf und ab. „Glaubst du der steht vielleicht auf mich?“, fragte sie aufgeregt und schielte auffällig unauffällig zu Joseph hinüber. „Nö, der steht auf Kate“, entgegnete Abby tonlos, sodass es unmöglich war an ihrer Aussage zu zweifeln. Sue wurde blass. „Was?“, entgegnete sie schockiert. „Abby und Sue, seid bitte ruhig, oder muss ich euch ins Klassenbuch eintragen?“, ertönte Mrs. Woods nervtötende Stimme und Sue wandte sich augenblicklich ihrem Heft zu, während Abby ungerührt weiter schrieb. Der Rest der Stunde verlief schweigend... wie die Ruhe vor dem Sturm.

 

Gegen Ende der ersten Pause musste Abby ein wutentbranntes Joseph-Gesicht mit Beinen auf sich zulaufen sehen. „Wieso setzt du solche Gerüchte in die Welt?“, fauchte er sie an und Abby, die dank der Musik auf ihren Ohren kein Wort verstand, nahm betont langsam die Stöpsel aus den Ohren. „Hm?“, machte sie und sah ihn fragend an. „Wieso erzählst du so einen Mist?“, fluchte Joseph und gestikulierte wild mit den Händen. Abby lehnte sich leicht zur Seite und sah an seinem kräftigen Körper vorbei. Zwanzig Meter hinter ihm stand eine Horde Mädchen, darunter auch Kate und Sue, die ihn allesamt anstarrten. Langsam lehnte Abby sich zurück und atmete tief durch, ehe sie Joseph wie ein großes Fragzeichen ansah. Ihr Gesicht sagte deutlich: „What the hell?“, also klärte Joseph sie auf. „Du hast Sue erzählt ich würde auf Kate stehen!“, warf er Abby vor und Abby zuckte mit den Schultern. In diesem Moment klingelte es. „Ich wollte nur nachhelfen“, meinte sie wie beiläufig, stand auf und ging Richtung Haupteingang. „Was – Abby bleib gefälligst hier!“, rief Joseph ihr hinterher, doch Abby winkte nur gleichgültig und steuerte auf den Literaturraum zu. Plötzlich packte sie eine Hand an der Schulter und drehte sie grob um – das war der Moment in dem Abby die Fassung verlor.

- „Abby –“, setzte Joseph wütend an, doch Abby versteinerte förmlich und unterbrach ihn.

- „Fass mich nicht an!“, sagte sie derart kalt, dass Joseph überrascht von ihr abließ und Abby im Gebäude verschwinden konnte.

In Abby tobte das Adrenalin. Sie hasste es derart behandelt zu werden – zu Unrecht. Doch das war nicht alles, sie hatte keine Ahnung weshalb, aber aus irgendeinem anderen Grund war sie verdammt wütend auf Joseph. Doch sie hatte nicht viel Zeit darüber nachzudenken. Pünktlich kam sie an ihrem Raum an und wurde von Jacob begrüßt. Nicht überschwänglich oder aufdringlich, sondern ganz monoton, wobei Abby im Nachhinein sicher war, einen glücklichen Unterton gehört zu haben. „Hallo Abby“, sagte der Junge mit dem stets leicht gesenkten Kopf und dem viel zu langen Pony. Er lehnte an der Wand vor ihrem Raum und stach lediglich dadurch hervor, dass nur Kim bei ihm stand. Die mit den dunkel geschminkten Augen, den Totenköpfen auf ihrer Tasche, den schwarzen Haaren und der skurrilen Ausstrahlung. Die beiden stachen aus der Menge hervor, weil sie anders waren. Bei Kim äußerte sich das durch ihr Aussehen, bei Jacob durch seine Verschlossenheit. Abby hatte ihn noch nie mit jemandem reden sehen und in der Pause verschwand er stets. Und jetzt stand er hier, mit Kims Arm um der Schulter und die beiden sahen aus wie hingestellt und nicht abgeholt. Sie passten nicht zum Restbild des Kurses. Denn der Rest unterhielt sich angeregt, Kim und Jacob hingegen standen einfach nur schweigend da. Jacobs Begrüßung hatte etwas, aus Abbys Sicht, sehr Beruhigendes an sich. Ihr Körper begann das ganze Adrenalin abzubauen und das Blut, das in ihre Wangen geschossen war, irgendwo anders hin zu leiten. „Hey Jacob“, gab sie angestrengt zurück, um sich nicht anmerken zu lassen, dass sie wütend war. In diesem Moment hörte sie ein Schlüsselrasseln und sie ließ hastig Mr. Terrell vorbei, der, die Arme voller abgegriffener Bücher, die Tür aufschließen wollte.

Kim hatte nach wie vor den Arm um Jacob gelegt und ließ erst von ihm ab, als sie sich in die hinterste Ecke des Raumes setzte und Jacob neben Abby Platz nahm, die sich in die zweite Reihe bequemte. Abby hatte gar nicht mitbekommen, dass Kim auch in ihrem Kurs war, doch irgendwie hatte sie das Talent sich unsichtbar zu machen. „Wieso setzt du dich nicht neben Kim?“, fragte Abby irritiert, als Jacob sich kommentarlos auf den Stuhl neben ihr sinken ließ. „Soll ich?“, fragte er hastig und verstört. Abwehrend hob Abby die Hände, sie hatte nichts gegen den Kerl einzuwenden. Wenigstens war er noch nicht unsympathisch oder aufdringlich gewesen. „Bleib ruhig sitzen, ich hab nichts dagegen“, sagte sie schnell und auf Jacobs Lippen zeichnete sich ein leichtes, erleichtertes Lächeln ab. Ohne davon Notiz zu nehmen wandte sich Abby Mr. Terrell zu, der Schulexemplare von „Romeo & Julia“ verteilte, da noch niemand in ihrem Kurs sich die Mühe gemacht hatte das Buch zu bestellen – und wenn doch jemand dabei war, war es noch nicht angekommen. Auch vor Jacob und Abby landete ein solches Buch und beide griffen gleichzeitig nach dem Buchdeckel, um es aufzuschlagen. Als Jacob das realisierte zuckte er zurück und ließ Abby das Buch aufschlagen.

- „Magst du Shakespeare?“, fragte er leise, während Mr. Terrell ein Brainstorming mit seinem Kurs veranstaltete.

- „Mh, ja eigentlich schon... ich hab mal eine Theateraufführung von Romeo und Julia gesehen. Sehr schöne Inszenierung“, antwortete Abby.

- „Kann ich mir vorstellen“, murmelte Jacob.

Während die beiden sich unterhielten wandte keiner sich dem anderen zu, sie schrieben mit, was Terrell an die Tafel schrieb und hörten seinem Schwärmen zu.

- „Nur die Kussszene haben sie verpatzt. Ziemlich unromantisch“, stellte Abby wie beiläufig fest und bemerkte, dass sie seit langer Zeit wieder Smalltalk mit einer Person führte. Doch solange sie sich dabei nicht unwohl fühlte war ihr das ganz recht.

Jacob lächelte und sein Lächeln war ansteckend. Zwar hatte Abby nach wie vor keinen Blick auf seine Augen werfen können, doch war sie sich sicher, dass sie aufleuchteten. Wenn man ehrlich lachte taten sie das jedenfalls... Abby kannte sich mit Lächeln nur zu gut aus. Sie spielte es oft. Sie zog ihre Mundwinkel nach oben, das war alles, man konnte es kaum Lächeln nennen... Aber Jacobs Lächeln wirkte ehrlich.

- „Dann waren die Schauspieler nur Schauspieler und nicht Romeo und Julia“.

- „Vermutlich“, stimmte Abby nickend zu und wandte sich wieder von Jacobs Lächeln ab.

- „Standest du schon mal auf der Bühne?“, fragte Jacob.

- „Nicht als Schauspieler, höchstens in der Grundschule mal...“, meinte Abby.

- „Als was denn?“

- „Als Pianistin im Schulorchester, oder als Tänzerin bei einer unserer Jazzaufführungen...“, zählte Abby auf.

- „Du tanzt?“, fragte Jacob erstaunt. Abby nickte.

- „Wieso?“

- „Ich tanze... auch. Aber... wir sind erst vor kurzem her gezogen, tanzen bei euch auch... als dürfen bei euch auch...?“, erklärte er unsicher.

- „Ja, Jungs werden immer gesucht, soll ich dich am Samstag mal mitnehmen? Wir fangen um 16:00 Uhr an“, meinte Abby lächelnd und wieder wirkte Jacob erleichtert darüber, dass Abby ihm die Worte abgenommen hatte. Er nickte.

- „Ich schreib dir meine Adresse auf“, sagte er und in diesem Moment klingelte es zur Pause. Ohne auf Jacob zu achten packte Abby ihre Sachen zusammen und verschwand durch die Tür des Klassenraums. Wortlos ging Jacob neben ihr her und Abby bemerkt ihn erst wieder, als sie an ihrer Bank angekommen war. Während sie gegangen waren hatte Jacob seine Adresse auf einen Zettel geschrieben und reichte ihr nun den Zettel. „Bitte“, sagte er und Abby las die Adresse. Zwar hatte sie noch nie etwas von seiner Straße gehört, doch wusste sie wo der Ort lag, in dem er wohnte. Sie konnte problemlos mit dem Zug fahren und es war noch nicht mal ein Umweg. Faszinierend war jedoch, dass er sogar beim Gehen eine absolut saubere, lesbare Handschrift hatte. Abby sah auf und wollte diesen Gedanken gerade aussprechen, als sie bemerkte, dass er verschwunden war. „Jacob?“, murmelte sie und sah sich irritiert um. Anstatt sich auf ihre Bank zu setzen, schlenderte Abby durch die Schule und quetschte sich freiwillig durch die kleinen Grüppchen, die überall herumstanden. Unbewusst hielt sie nach Jacob Ausschau, entdeckte ihn jedoch nirgendwo. Gegen Ende der Pause sah sie auf ihren Stundenplan und machte sich zu Philosophie auf. In diesem Fach war Miss Blair, zeitgleich ihre Französischlehrerin, etwas erträglicher. Außerdem machte das Fach Spaß, denn irgendwann lief es immer darauf hinaus den Sinn des Lebens zu hinterfragen. Erstaunlicherweise stand die Tür des Raumes offen und als Abby den Raum betrat hatte es noch nicht geklingelt. Folglich erwartete sie niemanden im Raum, doch entdeckte sie Jacob und Kim, die nebeneinander saßen und sich angeregt unterhielten. Vielmehr redete Kim scheinbar auf Jacob ein, doch Jacob saß nur da und starrte an die Wand. Abby räusperte sich, wollte sie die beiden doch nicht belauschen und Kim sah zu ihr hinüber, während Jacob unbewegt blieb. „Oh, hey Abby!“, begrüßte Kim sie freundlich und mit einem Lächeln im Gesicht. Ein Lächeln ohne blitzende Augen... Abby zwang sich selbst ebenfalls zu einem Lächeln, während Kim aufstand um auf ihren eigentlichen Platz zu gehen. Erst jetzt bemerkte Abby, dass sie ihre Sachen in die hinterste Ecke des Raumes gestellt hatte. Den letzten Platz den es gab. Jacob hingegen saß in der zweiten Reihe, neben sich einen leeren Stuhl. Ohne Nachzudenken setzte Abby sich auf diesen und musterte Jacob, der seinen Kopf immer noch Richtung Wand gerichtet hatte. „Sag mal siehst du unter den ganzen Haaren überhaupt irgendwas?“, fragte Abby interessiert und wollte ihm das Pony aus der Stirn streichen. Doch Jacob packte ihr Handgelenk und hielt es fest. Er tat ihr nicht weh, ließ aber auch nicht locker. „Ich mag meine Augen nicht“, gestand Jacob leise und ließ Abbys Arm sinken. Überrascht fuhren Abbys Augenbrauen in die Höhe, als es plötzlich klingelte. Seltsamerweise hatte sie sich nicht gesträubt, als er sie angefasst hatte und machte ihm auch keinen Vorwurf deshalb. Sie hätte fragen sollen. Anstatt etwas zu sagen wandte sie sich jedoch ab und tat es damit Jacob gleich. Während die beiden sich abwendeten strömte der Philosophiekurs in den Raum und nicht wenige fragten sich wohl, weshalb die Türen offen gestanden hatte, die drei bereits im Raum waren und vor allem weshalb Abby pünktlich kam.

 

Miss Blair war genauso überrascht wie der Rest der Klasse, da war Abby sich sicher. „Guten Morgen“, sagte diese und lehnte sich an ihr Lehrerpult. „Guten Morgen Miss Blair“, antwortete der gesamte Kurs einstimmig. Ihre Lehrerin lächelte und Abby suchte nach dem Funkeln in ihren Augen. Sie fand es, offenbar hatte sie wirklich Spaß an ihrem Unterricht. Fragte sich nur, wie lange das so sein würde. Miss Blair begann an die Tafel zu schreiben. Groß und breit standen dort die Worte: „Auch aus Steinen, die einem in den Weg gelegt werden, kann man Schönes bauen.“

„Das ist unser heutiges Thema!“, verkündete sie und lehnte sich wieder an ihr Pult. „Könnt ihr mir Beispiele für dieses Zitat nennen?“ Abby war überrascht als Jacob neben ihr die Hand hob. Sie hatte ihn noch nie etwas zum Unterricht beitragen gehört. Als er dran genommen wurde war seine Stimme leise und zittrig und in der letzten Reihe beschwerte man sich, man könne ihn nicht verstehen. „Wenn man Hindernisse überwindet, dann lernt man davon. Aber diese Steine können auch Fehler sein, die man selbst begeht und die man nicht noch einmal machen wird. Man sammelt Erfahrung und... daran wächst man“. Miss Blair nickte zufrieden, doch Abby hob ihre Hand. „Ja Abby?“

- „Manche Fehler sind aber einmalig, was also wenn man mit einem Fehler alle seine Chancen blockiert?“

- „Das muss ein großer Fehler sein...“, sagte Jacob und wandte sich zu ihr um. In Abbys Gesicht blitzte ein Funken Wut auf, als er so gleichgültig redete.

- „Die meisten Menschen geben doch auf, wenn sie diesen Fehler gemacht haben! Sie lernen nichts daraus, sondern vermeiden ist daran zu denken“

- „Sie sollten aber daran denken, denn nur wenn man Fehler macht wächst man“

- „Es gibt viele Menschen, die nicht stark genug sind um diese Fehler zu ertragen!“, entgegnete Abby.

- „Die Kraft eines Menschen misst man ja auch nicht an seinen Erfahrungen, sondern an seiner Fähigkeit Erfahrung zu machen. Irgendwann hat jeder die Grenze erreicht, an der er nicht mehr lernfähig ist, denke ich, und diese Grenze ist bei jedem irgendwo anders“, antwortete Jacob mit einem milden Lächeln im Gesicht, das Abby ihm am liebsten mit der Faust aus dem Gesicht geschlagen hätte.

- „Und wenn man weiß, dass man verliert, wenn man immer wieder stark ist und weiterkämpft?“

- „Wer kämpft kann verlieren, wer nicht kämpft hat schon verloren“.

Die gesamte Klasse, einschließlich Miss Blair hatte die beiden angestarrt. Kaum einer hatte ihr Gespräch wirklich verstanden, aber alle hatten zugehört. Gerade als Miss Blair ihren Unterricht fortführen wollte, erhob Abby wieder die Stimme.

- „Was wenn dieser Mensch aber nun doch zu schwach ist und am Boden liegt, was macht er dann?“

- „Er braucht etwas oder jemanden, der oder das ihm hilft wieder aufzustehen. Ein Lebensziel, die Liebe seines Lebens oder einfach einen guten Freund“, entgegnete Jacob ohne zu zögern. Abby konnte darauf nichts erwidern. Einfach deshalb, weil er Recht hatte. Sie hatte kein Lebensziel. Die Liebe ihres Lebens gab es nicht und von Freunden konnte auch nicht die Rede sein. Während Abby schwieg, schwieg auch der Rest der Klasse. Alle warteten darauf, dass sie etwas sagte... also tat sie ihnen diesen Gefallen.

- „Was, wenn dieser Mensch weder ein Ziel, noch Liebe, noch Freundschaft hat?“

- „Dann wird er daran zugrunde gehen. Aber wieso hat dieser Mensch das alles nicht?“

- „Vielleicht weil er orientierungslos ist, etwas Wichtiges verloren und jede Menge Fehler gemacht hat, die er nicht rückgängig und ungeschehen machen kann?“, sagte Abby heiser.

- „Dann sollte dieser Mensch etwas ändern. Einen Neuanfang wagen. Seine Fehler kann er also nicht wieder gut machen, okay, aber er hat davon gelernt. Und das sind die Steine, die ihm in den Weg gelegt wurden. Dieser Mensch sollte sich etwas suchen, für das es sich lohnt zu leben. Egal ob das ein Mensch“, er zögerte kurz. „Oder ein Ziel im Leben ist. Es muss etwas sein das dir morgens einen Grund gibt aufzustehen“.