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„Sweet Symphony“

oder: „Symphonie“

Prolog | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 | Kapitel 7 (in Arbeit)

Kapitel 1

“Suffer the sorrows”

 

Sie konnte so viel besser Geschichten erzählen als ich. Viel besser. Geschichten, die sie auf leere Seiten schrieb und die, wenn sie sie einmal zu Ende geschrieben und verkauft hätte, Bestseller hätten werden müssen. Preise und Auszeichnungen hätte sie bekommen müssen, endlos viele, allein für den Ideenreichtum mit dem sie ausgestattet war. Ihre Muse musste rund um die Uhr arbeiten, soviel war klar. Im Gegensatz zu ihr denke ich mir meine Geschichten nämlich nicht aus und das bedeutet, dass alles Folgende wahr ist. Nichts als die reine Wahrheit, auch wenn es noch so unglaublich und herzzerreißend klingen mag. Nun gut, ich schweife ab.

Abbigail, genannt Abby, war siebzehn. Die Sommerferien waren lang gewesen, sie war zu oft zu lange auf gewesen und hatte nun den ersten Schultag verschlafen, weil sie gestern Abend vergessen hatte den Wecker zu stellen... nun, eigentlich war sie vorbildlich früh im Bett gewesen die letzten Tage, nur den Wecker hatte sie mit Absicht ausgestellt. Auch jetzt wirkte sie nicht wirklich abgehetzt, als sie den absolut leeren Schulflur des „Kreativität fördernden Gymnasiums“ entlang schritt. Ihre zwei Zentimeter Absätze verursachten das verhasste Geräusch, das sie bei jedem Auftreten zusammenzucken ließ. Doch das war auch das einzige, weshalb sie sich gerade nicht wohl in ihrer Haut fühlte. Ihr war völlig bewusst, dass sie zwanzig Minuten zu spät zur Orchesterprobe kam. Ihr war bewusst, dass heute die neuen Fünftklässler ins Schulorchester eingeführt werden würden und ihr war bewusst, dass das Orchester ohne Noten und ohne Pianist nicht anfangen konnte. Und trotzdem beeilte sie sich nicht. Das Ganze hatte einen weitaus tiefgründigeren Hintergrund als ihr euch vorstellen könnt, glaubt mir. Mit dem Selbstbewusstsein ins Gesicht geschrieben öffnete sie die große Flügeltür und schritt einfach in den gigantischen Orchesterraum hinein. Jeder andere wäre erschlagen worden, hätte er die gut sechzig Musiker gesehen, doch da sich Abby dieser Anblick seit acht Jahren einige Male in der Woche eröffnete, war sie abgehärtet. Brav saßen die neuen Fünftklässler mit ihren brandneuen Instrumenten zwischen den alten Hasen und sahen ängstlich drein, woraufhin Abby einfiel, dass sie nach wie vor ihr „ich bin allein“-Pokerface aufgesetzt hatte. Sofort breitete sich ein Lachen in dem von zwei langen, blonden Strähnen umrahmen Gesicht aus. Strähnen, die routiniert aus ihrem Pferdeschwanz heraus fielen und zu ihrem lässigen Look gehörten. Mit strahlend blauen Augen sah sie in die Runde, im Arm nichts weiter als einen Packen Notenblätter. Sie hatte nur ein paar Sekunden Zeit, doch es waren genug Sekunden um etwa ein Dutzend Neue zu zählen. Einer stand mit einer elektrischen Gitarre um den Hals bei der „Band“. Einige, hauptsächlich brav dreinschauende Mädchen mit treuem Blick, saßen unter den Streichern. Dahinter sah sie ein paar Zwillinge, und das waren sie eindeutig, mit jeweils einer Klarinette dasitzen und sie entgeistert anschauend und noch eine Reihe dahinter sah sie ein paar neue Bläser, unter denen dieses Jahr ausnahmsweise auch ein Mädchen war, das eine gigantisch wirkende Posaune in der Hand hielt. Zum Zeichen der Beeindruckung zuckte Abby mit der linken Augenbraue und wandte sich dann dem Platz zu, der sie am meisten interessierte. Ein großer, schwarzer Flügel stand in der Nähe der Band und einzig und allein weil es die letzten Jahre Routine gewesen war, streifte Abby diesen Platz nur. Doch dieses Mal blieb sie hängen. Sah noch einmal hin und traute ihren Augen nicht, als sie eine Frisur entdeckte, die ihrer verdammt ähnlich war. Sie sah in ein paar blaue Augen, die genauso aussahen wie ihre und erkannte dann ein Mädchen mit oberflächlichem Grinsen im Gesicht. Arrogant angehaucht wie Abby war, hob sie das Kinn und sah förmlich auf die neue Pianistin hinab. Vielmehr die Anwärterin. Denn immerhin... war das ihr Platz.

„Abbigail, da sind sie ja endlich!“, ertönte die Stimme des Orchesterleiters. Einen Moment länger als geplant hing Abbys Blick an dem Mädchen, das sie nach wie vor mit einem naiven Lachen im Gesicht ansah. Dann erst setzte sie wieder ihr heiteres Lachen auf und wandte sich dem Orchesterleiter zu, den sie dabei beinahe mit ihren Notenblättern erschlug. Der Leiter wandte sich dem Orchester zu. „Darf ich euch vorstellen, dass ist unsere“, er machte eine Pause und sah zu Abby hinüber, „leicht verspätete“, sagte er mit einem bösen Blick in Abbys Richtung, den diese jedoch entweder übersah oder gekonnt ignorierte. „Abbigail Summer, die Komponistin und Pianistin unseres Orchesters „Sweet Symphony““. Sie erntete Applaus und sie verbeugte sich leicht. Es war höflicher Applaus bei denen, die sie nicht kannten und anerkennender Applaus bei denen, die sie kannten. Der höfliche Applaus würde sich bald in Anerkennung verwandeln. Anerkennung, die Abby nicht erzwang, die aber immer kam, egal ob sie wollte oder nicht. „Und darf ich euch vorstellen?“, ergriff Abby nun zum ersten Mal an diesem Tag das Wort mit selbstsicherer Stimme. Der Orchestermeister, der natürlich im Glauben war nun vorgestellt zu werden, griff sich an die Weste seines Anzuges und wandte sich in Richtung seines Publikums. Voller Ignoranz hob Abby ein Notenblatt von dem großen Stapel, den sie in der Hand hielt und zeigte es den Schülern und Schülerinnen. „Die neue Komposition für dieses Schuljahr, vielmehr die Ouvertüre von dem, was es mal werden soll: „Suffer the sorrows““. Überrascht und peinlich berührt zugleich versteinerte der Orchesterleiter, doch dann wandte er sich mit leicht säuerlicher Miene ab und schritt auf sein Dirigentenpult zu, während Abby los schritt, um die Noten sorgfältig zu verteilen. Diesmal war das Geräusch ihrer Absätze gedämpft. Der hohe Raum ließ ihre Absätze nicht so sehr erschallen wie der leere Schulflur, den sie jedoch schon vollkommen verdrängt hatte. Doch so ging es jedem, der den großen Raum betrat. Man erwartete einfach nicht, dass man in einer Schule einen solchen Raum antreffen würde. Während Abby durch die Reihen schritt und der Stapel auf ihrem Arm immer kleiner wurde, sah sie bereits die ersten Fünftklässler zittern, als sie die Noten zu Gesicht bekamen und sie musste kurz daran denken, wie sie gezittert hatte, als sie das erste Mal im Orchester gesessen hatte. Doch dieser Flashback dauerte nur kurz. Kurz blitzte das ängstliche Gesicht eines Mädchens mit blonden Haaren und blauen Augen, also einem Engelchen wie aus dem Bilderbuch, in ihren Gedanken auf, dass nervös auf die vielen schwarzen Punkte vor sich starrte und versuchte Ordnung in diese zu bringen. Genauso plötzlich wie diese Erinnerung kam, verschwand sie auch wieder, denn Abby hatte gelernt, dass es nichts nützte an der Vergangenheit festzuhalten, solang es eine Zukunft gab. Und die gab es.

Absichtlich war Abby von rechts aus gegangen, um die Noten zu verteilen, sodass sie als letztes an ihrem Stammplatz ankam. An dem großen Flügel, an dem ein Mädchen saß, dass Abbys Fähigkeit, die Vergangenheit zu verdrängen, auf eine harte Probe stellte und auch noch öfters stellen würde. Wortlos legte sie die Noten auf den Notenständer des schwarzen Instruments und winkte dann wortlos zwei ihrer Klassenklameraden aus den Klarinetten herbei, die sofort ihre Instrumente beiseite legten und zu ihr kamen. Inzwischen hielt der Orchesterleiter seine jährliche Ansprache. Er stellte sich als Rudolph Grant vor und erklärte den Fünftklässern die üblichen Regeln im Orchester. Nur Spielen, wenn man aufgefordert wird, striktes Schweigen, kein Geflüster... und so weiter. Das würde die Kleinen erstmal ruhig stellen und ihnen eine gehörige Portion Selbstdisziplin abverlangen. Unterdessen waren die beiden kräftigen Zwölftklässler mitsamt Abbigail in einem Seitenraum verschwunden, wo sie eine große Flügeltür öffneten und einen zweiten Flügel herbei schoben. Dieser passte exakt neben den Ersten, sodass Abbigail mit natürlichem Stolz die Türen schließen und den beiden Jungs danken konnte. Es machte ihr sichtlich ein wenig Spaß, dass die beiden nach ihrer Pfeife tanzten. Doch schwer zu verstehen war das nicht. Sie war hübsch, hatte Erfolg, eine schlanke, aber an den richtigen Stellen proportionierte Figur – was wollte man als Kerl mehr? Richtig, vielleicht ein Mädchen, dass sich auf einen einließ. Aber von dieser Sorte war Abby leider nicht.

Der zweite Flügel sah älter aus, als der erste. An ein paar Ecken war der Lack abgesprungen, doch sonst sah er tadellos aus. Mit vielsagender Geste deutete Abby zu eben jenem Instrument, um das Mädchen darauf aufmerksam zu machen, wo ihr rechtmäßiger Platz war. Offenbar war Abbys Blick derart kühl, dass dem Mädchen die Farbe aus dem Gesicht wich. „Schweigen ist die unerträglichste Erwiderung“, dachte Abby neutral und nickte, nachdem das Mädchen den Platz gewechselt hatte. Diese Handlung war für das nahezu spöttische Grinsen des Kindes von vorhin gewesen. Doch während Abby sich an die geliebten Tasten ihres Flügels setzte, spürte sie, dass der Wille der Kleinen stärker war denn je, ihr zu zeigen was sie konnte. Ein wenig melancholisch sah Abby die schwarz/weißen Tasten an und strich darüber. Sie selbst wusste nur zu gut, wie schnell man am Rande des Abgrunds stehen konnte, wenn man nur lang genug blind geradeaus rannte.

Mr. Grant ordnete die Registerproben für die nächsten Wochen an, also die Proben der einzelnen Instrumente. Und wie Abby es befürchtet hatte, wurden der neuen Pianistin Einzelstunden verabreicht, die sie zu leiten hatte, immerhin hatte sie die Stücke für das diesjährige Orchesterwerk geschrieben. Und zudem war sie rein zufällig ebenfalls Pianistin. Nach gefühlten zwei Minuten war die gesamte Doppelstunde bereits vorbei. Die meisten Proben waren nachmittags angesetzt worden, also schnappte sich Abby nach dem offiziellen Ende der Stunde den Plan Mr. Grants und studierte ihn schnell. Während die Neue noch ihre Noten zusammenpackte, lehnte Abby sich auf ihren Flügel. „Dein Name?“, fragte sie beiläufig. „Kathrin, Kathrin Gayman“, stellte sie sich vor. Mit einem Seufzend wandte Abby den Blick von dem Plan ab und reichte ihr förmlich die Hand. „Abbigail Summer“, stellte sie sich vor. Einzig und allein aus Höflichkeit, denn sie wusste ja, dass das Mädchen ihren Namen bereits kannte. Das Mädchen öffnete mit einem Lächeln den Mund, denn offenbar hatte Abby ihre kalte Fassade fallen lassen. „...und komm nicht auf die Idee mich Abby zu nennen!“, warnte Abby wieder so kühl wie zuvor. Das versetzte Kathrin einen Dämpfer. Die Kleine zuckte zusammen und schluckte. Förmlich holte Abby einen Kugelschreiber aus der Tasche und schrieb auf die Rückseite des Registerprobenplans Kathrins Namen.

- „Seit wann hast du Klavierunterricht?“, fragte sie.

- „Seit vier Jahren...“.

- „Wie schätzt du dich selber ein? In Schulnoten?“

- „Äh – was ist das für eine Frage?“, fragte Kathrin irritiert. Seufzend strich Abby sich eine Strähne aus dem Gesicht und sah die Kleine ernst an. „Ähhh – gut“, sagte diese hastig, aus Angst vor noch mehr kalten Worten. Mit gespitzten Lippen notierte Abby sich das.

- „Gut, Montags Nachmittag hab ich keine Lust und Freitags geht es nicht, da ist die reguläre, große Orchesterprobe“, stellte Abby fest. „Dienstags und Mittwochs?“.

- „Zwei Tage?“, fragte Kathrin irritiert.

- „Glaub mir, bald wirst du dir drei wünschen“, meinte Abby.

- „Ja, okay. Dienstags ist gut, aber Mittwochs ist mein Vater zu Haus, da geht es nicht“, meinte sie.

- „Hör mal, ein bisschen anpassungsfähig musst du schon sein!“, meinte Abby ein wenig gereizt und sah ernsthaft böse aus.

- „O- okay, Dienstag und Mittwoch passt!“, berichtigte Kathrin sich hastig und fuchtelte abwehrend mit den Händen.

- „Geht doch“, meinte Abby mehr zu sich als zu dem Mädchen und wandte sich dann zum Gehen. Sie schritt in Richtung der großen Flügeltür und ließ Kathrin in dem großen Saal zurück. Nun machten ihre Absätze ein lauteres Geräusch. Die schwarzen Sandalen mochten Einsamkeit nicht, dann schrien sie. Dann waren sie laut und schrien nach Aufmerksamkeit. Wenn sie unter Menschen waren, waren sie leise. Kaum hörbar. Nur ein Flüstern auf dem Parkettboden. „Ach ja, Kathrin?“, meinte Abby laut, als sie sich in der Tür noch mal umdrehte. Einen Augenblick dachte sie nach, doch dann sagte sie lediglich: „Sei pünktlich“.