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„Sweet Symphony“

oder: „Symphonie“

Prolog | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 | Kapitel 7 (in Arbeit)

Kapitel 2

“Listen to the music, the music of your heart”

 

Etwas später als alle anderen Schüler ging Abby in die Pause. Ihre Unterhaltung mit Kathrin hatte länger gedauert, als ihr lieb gewesen war und sie begann allmählich sich ein Bild von dem Kind zu machen. Die Haare waren gefärbt, am Ansatz erkannte man deutlich die schlampige Arbeit der Friseuse, als sie das dunkle Blond in das gleiche Strohblond verwandelte, wie Abby es auf dem Kopf trug. Sie schritt energisch durch die vollen Schulflure, die Stimmen um sie herum dämpften das Geräusch ihrer Absätze und sie kämpfte sich durch die Schülermassen. Die kleinen Fünfer wichen ihr aus, einfach deshalb, weil sie neu waren. In ein paar Tagen würden sie sich ihr voll Inbrunst in den Weg stellen und Abby müsste sich die Mühe machen, sie aus dem Weg zu schieben. Als Fünfer war sie keinesfalls anders gewesen, denn allein wegen der Körpergröße fühlte man sich gegenüber den Großen klein und unbedeutend. Also mussten sie auf sich aufmerksam machen, indem sie dumm im Weg herumstanden. Und nachher waren die Großen die Bösen, weil wir uns lediglich einen Weg durch die Menschenmasse bahnten.

Sie kam an den Schließfächern an, die die erste Zwischenstation ihrer Reise darstellten. Die Dinger waren alt und nicht selten standen einige Jüngere davor und rüttelten wie wild an den Fächern. Letztes Jahr hatte ein eine Siebtklässlerin geschafft eine gesamte Reihe umstürzen zu lassen. Sie kam ins Krankenhaus und war erst zwei Monate später wieder in der Schule. Ein Schließfach wollte sie nicht mehr, sodass sie nun jeden Tag mit dutzend Büchern beladen durch die Korridore lief. Abby hingegen hatte den Dreh raus. Seit der fünften Klasse hatte sie das Schließfach mit der Nummer neunzehn. Eigentlich war es die 119, aber die erste eins war abgeblättert, sodass zwischen 118 und 120 nun eine neunzehn prangte. Nachdem sie den Schlüssel ins Schloss gesteckt und ihn umgedreht hatte, schlug sie einmal mit der flachen Hand gegen die Metalltür. Die Tür sprang ihr entgegen und Abby beobachtete aus dem Augenwinkel ein kleines Mädchen, das sich auf die Zehenspitzen stellte und vergeblich versuchte ihr Fach zu öffnen. Abby sah weg. Sie hatte heute bereits genug Blicke auf sich gezogen, die sie lieber ungeschehen machen wollte und immerhin war es mit einer Todsünde gleichzusetzen, wenn man Kindern aus der Unterstufe half. Stattdessen zog Abbigail Summer die schwarze, schwere Umhängetasche (kein Markenzeug, einzig und allein um sich gegen den Sturm zu stellen) aus ihrem Schließfach und schloss es wieder ab. Als sie an dem verzweifelten Mädchen vorbei ging, schlug sie einmal mit der flachen Hand gegen ihr Schließfach. Es sprang auf und anstatt sich den dankbaren Blick des Mädchens zu Gemüte zu führen, kehrte sie ihr den Rücken zu, ging weiter und ließ ein verdutzt, dankbares Mädchen zurück, das ihr nachdenklich hinterher sah. Abbigail Summer stellte sich gerne gegen den Sturm, doch diese Denkensweise geriet oft mir ihrem starken Willen aneinander, nicht unnötig negative Aufmerksamkeit zu erregen. Doch in diesem Fall hatte ihr das Mädchen schlicht und ergreifend Leid getan, auch wenn alle anderen auf die Kleine hinab gesehen hatten. Abby erinnerte sich viel zu gut daran, wie es gewesen war, als sie neu an diese Schule gekommen war – und eben weil sie sich so gut erinnern konnte, vermied sie es sich zu erinnern.

Während Abby erneut als einer von über tausend Schülern durch die Gänge schritt, kramte sie in ihrer Tasche nach dem schäbigsten Gegenstand, den sie besaß. Das Ding war mal schwarz gewesen, mittlerweile war der Lack abgesprungen und sie musste an den alten Flügel denken, an dem die Neue bald spielen müsste. Die Kleine war ein Fan von ihr und genau das würde ihr zum Verhängnis werden, wenn sie nicht aufpasste. Es war nicht gut jemand anderen zu imitieren. Jemand, der man in Wirklichkeit gar nicht war, sondern nur vorgab zu sein. Das allein brachte später mehr Schmerzen mit sich, als man geplant hatte, denn unbewusst kopierte man nicht nur die positiven, bemerkenswerten Seiten der angehimmelten Person, sondern auch die dunklen, die schlechten, negativen Seiten. Und davon hatte Abby leider mehr als ihr lieb war.

Besagter, ehemals schwarzer, Gegenstand stellte sich als MP3-Player heraus und wäre es in irgendeiner Weise effizient gewesen, hätte man sie deshalb vermutlich ausgelacht. Heutzutage durfte es nur noch das Neuste sein. Ein Handy musste Fotos schießen und Videos drehen können, im Normalfall nicht unter vierzig Millionen Megapixel haben und mindestens fünftausend Euro gekostet haben. Gleiches galt für MP3-Player, denn mit denen musste man heutzutage telefonieren und Simsen können. Dafür verzichtete man dann gerne auch mal auf die Funktion des Musikhörens, doch für Abby war letzteres eben die einzige Funktion, die alle technischen Geräte dieser Welt brauchten. Während sie sich verkabelte und ein paar verschlissene Kopfhörer in die Ohren steckte (ich spreche von kleinen Stöpseln, nicht von gigantischen Kopfhörern aus dem letzten Jahrhundert) öffnete sie die nichtssagende, ebenso wenig beschriftete wie in irgendeiner Weise als Sekretariat gekennzeichnete Tür, nachdem sie höflich geklopft hatte. Drinnen war es voll und stickig. Die Sonne schien direkt auf die breite Fensterfront des großen Raumes und gut ein Dutzend Schüler quetschten sich vor die Rezeption und wollten von einer der beiden anwesenden Sekretärinnen bedient werden. Ich machte es mir einfacher, quetschte mich zwischen großen und kleinen Leuten hindurch, von denen ich die Hälfte sogar kannte, und bequemte mich zu den beiden Sekretärinnen hinter der Rezeptionen. „Miss Summer, kann ich ihnen helfen?“, fragte plötzlich eine ziemlich ernste Stimme von hinten. Andere wären zusammengezuckt, Abby nicht. Stattdessen sagte sie nur knapp „danke, nein“ und suchte unter den vielen Papieren hinter der Rezeption nach etwas. Die Frau mit den streng zurückgebundenen, dunklen Haaren hatte mittlerweile Falten rund um die Augen bekommen und würde sie nicht immer so ernst schauen, wäre sie sogar hübsch. Doch in Abbys Augen verstellte sich ihre Schulleiterin nahezu grandios. Abby schätzte die Mitte Dreißigjährige als den Traum vieler Männer ein. Strenge Bibliothekarin, so war sie in der Schule, doch zu Hause war sie bestimmt die strapsentragende Nutte, die nicht nur dem eigenen Mann den Kopf umdrehte. Mit einem Zettel in der Hand wandte Abby sich um und erblickte genau das Gesicht, das sie erwartet hatte. Zwanghaft vorwurfsvoll sah Elisabeth Hunter (von allen Oberstufenschülern liebevoll Lissi genannt) die Zwölftklässlerin an, die einfach auf eigene Faust nach dem diesjährigen Stundenplan für ihre Stufe gesucht hatte, statt sich eine halbe Stunde Wartezeit um die Ohren zu schlagen. Lissi hielt einen Packen wahnsinnig wichtiger Akten und eine Kaffeetasse in der Hand. Die Grundausstattung für jeden Lehrer und jede Lehrerin, um wichtig auszusehen. Abbys Lippen umspielte ein sorgloses, braves Lächeln, dem die Schulleiterin noch nie stand halten konnte. Doch heute war ihr Wille irgendwie schneller gebrochen als sonst. Und einen Augenblick später erkannte ich auch weshalb...

Elisabeth Hunter hatte früh geheiratet. Sie heiratete einen Lehrer, als sie gerade mal 23 war. Irgendwie schien es üblich, dass Lehrer sich untereinander vermehrten, so als wären sie eine Spezies, die lediglich Artgenossen duldete. Ein Phänomen, das bei keinem Beruf sonst aufzutauchen schien. Der Typ war Abbys Mathelehrer in der Fünften gewesen. Ein Grund ihn zu hassen und ein Grund weniger, Lissi zu verstehen. Doch irgendwie passten die beiden zusammen, denn Lissi war in Wahrheit herzensgut und freundlich, offen für Neues und nur im Notfall streng. Ihr Ehemann, Dr. Hunter, war ein Ekelpaket. Er hatte Lieblingsschüler, die anderen waren ihm ein Klotz am Bein. Versteift auf seine Lehrmethoden ließ er sich nie auf Neues ein und verteilte großzügig Strafaufgaben... und doch gaben sich die beiden das Ja-Wort, tauschten wunderschön gravierte, goldene Ringe aus... das alles war über zehn Jahre her – und jetzt fehlte der Ring an Lissis Hand.

 

Sie ging den Weg zurück, den ich gekommen war. Es hatte längst geklingelt, doch Abbys Standart war es nun mal zu spät zu kommen. Deutsch stand auf dem Stundenplan, den sie sich aus dem Sekretariat abgeholt hatte, ein Fach gegen das sie absolut nichts einzuwenden hatte. Wie gewöhnlich stand sie vor einer verschlossenen Tür, als sie am Raum ankam, also klopfte Abby und trat ohne jegliches Schuldbewusstsein ein, ohne sich auch nur anmerken zu lassen, dass sie es freute, dass ihr geplantes Zuspätkommen die gewünschte Wirkung beim Lehrer erzielte. Jeff Mountain war sein Name, eine stets hektische Person, die man nie ohne Kaffeetasse aus dem Lehrerzimmer kommen sah. Abby hatte eine natürliche Abneigung gegen dieses Gesöff, gegen Mr. Mountain jedoch nichts einzuwenden. Seine hektische Art ließ ihn mit hochrotem Kopf an der Tür stehen und wild mit den Händen gestikulieren, während Abby mit betonter Gelassenheit auf ihrem Standartplatz in der zweiten Reihe platz nahm. Die erste Reihe war die der Streber, oder aber die derjenigen, die vom Lehrer aufgrund von unqualifizierten Unterrichtsbeiträgen oder schlechter Noten nach vorne gesetzt wurden. Hinten saßen die Diven, die sich während des Unterrichts gegenseitig schminkten (und nach Abbys Theorie ihre Schminkschicht mit einem 30cm-Lineal überprüften) und die, die einen auf Unterrichtsverweigerung machten, deren Verweigerung jedoch noch nicht ausgereicht hatte, um in die vordere Reihe versetzt und mit einem Streber ausgetauscht zu werden. In der Mitte saßen die Normalen, oder zumindest die, die es vorgaben zu sein. Die, die nicht auffallen wollten, so wie Abby, oder die, die es einfach nicht besser wussten.

Nun jedenfalls hatte ihr Deutschlehrer sich nach ein paar atemlosen Sekunden wieder eingekriegt. Den Tadel überhörte Abby, nahm die an ihr vorbeiziehenden Worte nur mit einem Kopfnicken hin und verdrängte sie im gleichen Augenblick wieder. In Gedanken hing sie nach wie vor bei Lissi. Ein heller Streifen war dort zu sehen, wo der Ring gewesen war. Offenbar hatten die beiden ihr Zehnjähriges in den Sommerferien irgendwo im Süden gefeiert. Abby wagte es zu bezweifeln, dass der Ring im Sand verloren gegangen war, denn längst dachte sie nicht mehr mit der Naivität eines Kindes. Sie zog lediglich Schlüsse aus dem, was sie sah und war dabei realistisch. Ihr fehlte es sowohl an naivem Optimismus, als auch an depressivem Pessimismus – und doch vermisste sie nichts davon ernsthaft. Sie war immer realistisch, immer. Genauso, wie sie immer zu spät kam. Es gehörte einfach zu ihr, so wie ihre blonden Haare und die blauen Augen, das dezent geschminkte Gesicht und die Blicke, die sie auf sich zog. Seien sie bewundernd, anerkennend oder einfach nur abfallend.

 

Lissi war ein lebendiger Beweis für die Vergänglichkeit von Liebe. Je länger sie dauerte, desto tiefer war der Schmerz, der daraus folgte. Ihre Schulleiterin hatte nahezu so gewirkt, als stände sie am Rande des Abgrunds – mit dem Wind im Rücken. Ohne Flügel, ohne Fallschirm und ohne Schutzengel.

Abby versuchte das Bild ihrer gebrochenen Schulleiterin aus ihren Gedanken zu verdrängen. Das war zu viel für den ersten Schultag, wirklich. Sie hatte das ganze letzte Jahr über stets die Vergangenheit verdrängt und jetzt kamen plötzlich so viele Erinnerungen in ihr hoch. Kathrin, die kleine Fünftklässlerin die ihr nacheiferte und sie so sehr an sich selbst erinnerte. Lissi, deren nur langsam verblassendes Zeichen der ewigen Liebe nichts weiter zu sein schien als eine Lüge...

Abby war dem Unterrichtsverlauf nur mit einem halben Ohr (wenn es überhaupt so viel war) gefolgt. Doch nun weckte etwas ihre Aufmerksamkeit. „Error, Stimme des Schülers wurde nicht erkannt, Error“, tönte es in ihrem Kopf und sie sah mit ernst irritiertem Blick auf. Ihr Blick suchte die Person, zu der der Bariton gehören könnte und ihre Augen leuchteten nahezu schockiert überrascht auf. Der Typ war eindeutig neu und sah verdammt noch mal ziemlich gut aus. Zum ersten Mal an diesem Tag sah sie sich richtig um in ihrem Deutschkurs, doch offenbar war er der einzig Neue. „...alte Schule war nicht das Richtige, also dachte ich, ich probier es mal hier. Ihr seht ja alle ganz nett aus“, sagte er während er sich ganz relaxt in seinem Stuhl zurücklehnte. Während er das sagte sah er in meine Richtung und ich blickte hinter mich. Meine Sitznachbarin Jenny, von der ich bis zu diesem Augenblick keine Notiz genommen hatte, wurde knallrot und lächelte schüchtern. Angeekelt sah ich sie an und schüttelte angenervt den Kopf. Spielte denn heute jeder verrückt? Ich wandte mich wieder dem Typen zu und ertappte mich dabei, wie ich meinen Blick über dessen nicht zu übersehendes Sixpack streifen ließ. Hastig konzentrierte ich mich wieder auf die dunklen Augen des Kerls, der sie ein paar Worte später als „Joseph Diao“ vorstellte. Als ich den Blick von ihm abwandte sah ich den Großteil der Mädels in der Klasse mit halb offen stehendem Mund (ich war der festen Überzeugung, bei Jenny und Kate Sabberfäden zu sehen) auf Joseph zu starren. Verzweifelt starrte ich auf die Uhr an der Wand und blendete nun endgültig den Bariton von Joseph aus.

Das Klingeln wenige Sekunden später erlöste mich und ich war schneller aus dem Raum, als man „Joseph Diao“ sagen konnte. „Nächste Stunde fangen wir dann mit dem neuen Thema „Gedichte“ an – Abby ich zähle auf dich“ – verdammt. Abby tat als hätte sie Mr. Mountains Kommentar nicht gehört, doch hinter ihr äfften bereits die ersten Schüler Mr. Mountains Worte nach. „Abby ich zähl auf dich, Abby hier, Abby da, woah kotzt das an, dabei ist gerade mal der erste Tag“, hörte ich Kates (Lästerschwester Nummer 1) laute, schrille Stimme durch den Korridor schallen. Ich atmete tief durch und wünschte mir, sie möge einfach von irgendetwas oder irgendjemandem erschlagen werden. Natürlich hatte sich der Großteil der Schüler bereits zu mir umgedreht und als ich durch eine der großen Flügeltüren auf den großen, weiten Schulhof floh, war die frische Luft wie eine Erlösung für sie. Erst jetzt bemerkte sie, dass im Gebäude ein schrecklicher Geruch nach Deodorant und Aftershave in der Luft gehangen hatte, vermutlich hatte irgendeine siebte Klasse Sport gehabt und das von Mami gekaufte Deo herumgesprüht. Der Klassiker.

Schneller als geplant hastete sie zur nächsten Unterrichtsstunde und würde ausnahmsweise pünktlich sein. Toll fand sie das nicht, aber besser als von Kates Lästerstimme verfolgt zu werden. Jeder wusste, dass sie ein Talent fürs Dichten hatte. Fürs Schreiben im Allgemeinen. Was war so schlimm daran in etwas gut zu sein? Abby hatte das nie verstanden, offenbar war es einfach nur mit einer der sieben Todsünden gleichzustellen, wenn man anders war als der Durchschnitt. Doch an einer Schule wie dieser kam es oft vor, dass Menschen anders waren. Deshalb gab es viele Einzelgänger. Einzelgänger, die sich nicht zu einer Gruppe zusammen tun konnten, weil sie Individuen waren, die genauso wenig miteinander anfangen konnten, wie der Rest der Welt mit ihnen. Entweder man bewunderte oder man hasste sie, aber ein freundschaftliches Verhältnis zu ihnen aufzubauen war nicht drin. Das wurde nicht toleriert. Abby gehörte zu diesen Freaks. Schon immer. Freaks ohne Freunde eben. Aber ernsthaft, das klassische Bild von einem Außenseiter war sie nicht. Sie zog die Blicke der Jungs auf sich, auch wenn sie es selten bemerkte. Sie war hübsch, und auch wenn sie blond und blauäugig war, war sie alles andere als dumm. Sie war keine dieser Barbie-Puppen, die sich zentimeterdick Make-Up ins Gesicht schmierten. Nein, sie war der Ansicht, dass ein Lächeln schöner war als viel Schminke. Ein ehrliches Lächeln. Keines von denen am heutigen Tag. Sie hatte den Orchesterleiter angelächelt – weil sie zu spät gekommen war. Ein entschuldigendes, gespieltes Lächeln. Dann hatte sie das Orchester angelächelt. Gespielt, weil sie nicht allzu spooky wirken wollte, auch wenn sie die kleinen Kinder nur zu gerne verschreckt hätte. Dann hatte sie Lissi angelächelt – aufmunternd gequält. Gleich darauf war sie aus dem Sekretariat gestürzt und hatte versucht den hellen, weißen Streifen zu vergessen.

 Es folgte eine recht langweilige Stunde Französischunterricht, in der Abby feststellen musste, dass sie in den vergangen sechs Wochen so ziemlich jede einzelne Vokabel aus ihrem Gedächtnis getilgt hatte und dennoch beteuerte in den Ferien gelernt zu haben (ernsthaft: welcher Lehrer ist wirklich der naiven Ansicht, seine Schüler würden sechs Wochen reine Freizeit zum Lernen nutzen?). Nach der Stunde war sie lediglich um ein paar Hausaufgaben reicher, hatte sich ein paar neue Lebensweisheiten anhören müssen (Miss Blair war zugleich Philosophielehrerin, ein ganz schlechter Mix) und hatte dafür ein paar schöne Kindheitserinnerungen ausgelöscht. Herrlich. Doch es sollte noch herrlicher werden. Die zweite große Pause hielt Einzug und Abby beschloss sie sinnvoller zu verbringen als die Erste. Vielleicht schaffte sie es ja dieses Mal erfolgreich zu spät zu kommen, denn diesmal lohnte es sich auf alle Fälle. Doch dazu später mehr.

Abbigail machte es sich auf einer der Holzbänke bequem, die über den ganzen Schulhof verstreut standen. Sie stellte die Tasche neben sich und drehte ihre Musik so weit auf, dass sie ihre Umwelt nicht mehr hören musste. Sie sah wie Fußballspielende Unterstufenschüler den Mund öffneten und ihre Lungen sich hoben und senkten, doch sie musste ihr Geschrei nicht ertragen. Stattdessen ließ sie sich die warme Sonne auf die nackten Arme strahlen, auch wenn sie dabei nicht wirklich hoffte den Sommerurlaub der anderen, braun gebrannten Mädchen in einer einzigen Pause nachzuholen. Sie war schon immer blass gewesen, doch das passte wenigstens zu den strohblonden Haaren, die ihren Kopf schmückten und stets ein wenig zerzaust wirkten. Abby ließ ihren Blick über den Schulhof wandern und ihr Blick blieb an einer Gruppe Mädchen aus ihrer Stufe hängen, die sich allesamt um „Mr. Lover Lover“ drängten. Sie rollte mit den Augen und wollte gerade den Blick abwenden, als sie sah, dass Joseph sich aus der Gruppe löste und eine Gruppe schwärmend starrender Mädchen hinterließ, die allesamt wie dreizehn und süchtig nach Brad Pitt wirkten. Nur das Brad Pitt eben Joseph Diao hieß... Beinahe provokativ ging er über den Schulhof, wen auch immer er damit beeindrucken wollte. Abby selbst ließ es sich nicht nehmen wenigstens ein paar Augenblicke lang auf seinen knackigen Hintern zu starren, ehe er im Gebäude verschwand, ohne sich noch einmal umzudrehen. Abby wandte den Blick ab und übersprang das nächste Lied auf ihrem Mp3-Player, einzig und allein weil sie wusste, dass der Gitarrist seine Gitarre vor der Aufnahme nicht gestimmt hatte und nun alles krumm und schief klang. Solche Schlampigkeit hasste Abby und dementsprechend verzog sie das Gesicht, als der erste Schlag kam und hastig drückte sie einen Song weiter. Zwar hörte das Mädchen das Klingeln nicht, wohl aber bemerkte sie, dass der Schulhof sich leerte. Erst als er ganz leer war und keine Menschenseele sich mehr herumtrieb, stand auch Abby auf und setzte sich allmählich in Bewegung. Sie zog die Stöpsel aus den Ohren und plötzlich kam ihr die aufkommende Brise wie ein Wirbelsturm vor. Nicht mehr als ein Pfeifen an ihren Ohren, doch der Wind verriet ihr jedes Mal aufs Neue, was sie haben wollte, was sie sich wünschte und doch nicht haben konnte. Er flüsterte ihr zu, beinahe höhnisch und manchmal hörte Abby ihn auch lachen. Ihre Schritte beschleunigten sich und als sie die Tür erreicht hatte flüsterte der Wind ihr das ins Ohr, was sie so sehr ersehnte und doch nicht bekommen würde, wenn sie so weiter lebte wie bisher: „Freiheit“, flüsterte er. „Freiheit“.