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Wovor ich Angst habe

„Was denn, du kennst sie?“, fragte das Mädchen ungläubig und starrte sie an. „Natürlich, jeder muss sie kennen!“, witzelte meine ehemals beste Freundin und lächelte zuversichtlich, doch ihr Gegenüber schüttelte nur den Kopf. „Hier kennt sie kaum einer. Sie arbeitet seit vier Jahren hier, aber redet kaum mit uns“, sagte die Angestellte der Grafikagentur, in der sie sich befanden. Natürlich glaubte meine Freundin das nicht, also ließ sie sich zu mir führen… zu mir nach Hause. Ihr öffnete ich die Tür, doch meine Kollegin ließ ich kühl draußen stehen. Ich sah ihren Blick, als sie sich ungläubig umsah. Sie sah mich in schäbigen Klamotten. Ein Mickymaus-T-Shirt, eine ausgeblichene Jeans… beides viel zu weit. Meine Strümpfe hatten ein Loch, schon seit Wochen, doch ich hatte sie nie weggeworfen. Ich selbst blickte ebenfalls mitleidig an mir hinunter, doch im Gegensatz zu meinem, hatte ihr Blick noch etwas Überraschtes. Meiner hingegen kannte den Anblick, der sich ihm bot, nur allzu gut, immerhin erschien er jeden Morgen im Spiegel. Doch die junge Frau vor mir war meine ehemals beste Freundin. Seit dem Abi hatten wir uns nicht mehr gesehen, doch das letzte was sie gesehen hatte, sah ich in ihren Augen. Ein junges Mädchen mit guten Noten, Träumen, Visionen und Zukunftsplänen. Ein Mädchen, das wusste, wo sie hingehörte und wusste, wo ihre Stärken und Schwächen lagen. Jemand, der sich durchsetzen konnte und spontan und kreativ war. Und jetzt sah sie mich. Irgendwann riss sie den Blick von mir los und begutachtete die kleine Wohnung. „Dein Traum war doch eine WG während dem Studium“, murmelte sie wie beiläufig, doch ich hatte sie fixiert und sah den nervösen Seitenblick. Meine Augenbrauen wanderten enger zusammen und plötzlich hielt meine Freundin inne. Sie zählte mit den Fingern und sah mich dann erschrocken an. „Hey, hey du hast gar nicht studiert!“, stellte sie schockiert fest und zustimmend nickte ich. Entsetzt sah sie mich an. „Oh Gott, wo ist die Person hin, die ich kannte?“, fragte sie mit einer Spur Erstaunen in der Stimme, so als hätte sie niemals erwartet, dass ich mal so enden würde. Zugegeben: Ich auch nicht. Noch immer hatte ich kein Wort gesagt. „Wo ist das Mädchen, dass sagte, was sie wollte und die auf die Bühne gehört? Nicht in ein stickiges Bürozimmer!“, fluchte sie und packte mich bei den Schultern. „Die beste Freundin, die immer da war und mehr Hobbies hatte, als jeder andere, den ich kenne? Die kreativste Person, die ich kannte?“, in ihren Augen standen die Tränen und ich hatte nach wie vor kein Wort verloren. „Ich war bei dir auf der Arbeit, niemand kennt die musikalische junge Frau, von der ich mich vor sechs Jahren verabschiedet habe!“, stellte sie fest und ließ dann von mir ab, als sie merkte, dass ihre wütende Reaktion auf mein Leben keine Wirkung erzielte. Nach einer Minute Schweigepause, sagte ich meine ersten Worte. „Ich kenne sie auch nicht“, murmelte ich leise und überrascht sah die junge, erfolgreiche Ingenieurin mir gegenüber auf. Fragend und schockiert sah sie mich an. Und zum ersten Mal heute lächelte ich. „Ja, ich wollte auf der Bühne stehen. Ja, ich hatte das nötige Talent. Ja, ich hatte Träume… Träume die zerplatzten wie Seifenblasen…“, sagte ich und sah gedankenversunken zur Decke. Doch dann, als die Tränen sich in meine Augen schlichen, wurde mein Gesicht wutverzerrt und ich fuhr ruckartig herum zu dem Menschen, der dieses Gefühl verursacht hatte. „Warum bist du hier? Warum?“, schrie ich sie an und fuhr mir mit den Händen durch das ungepflegte, blonde Haar. Die Haare, die ich nie offen tragen wollte und jetzt wie eine Löwenmähne mit mir herum trug. Doch die junge Frau vor mir sah lediglich enttäuscht drein, völlig unbeeindruckt von meiner Erscheinung. „Ich wollte eine alte Freundin besuchen. Aber sie ist wohl nicht hier“, flüsterte sie leise. Dann ging sie wortlos hinaus und schloss die Tür…