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Vorwort | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 (folgt)

Vorwort

„Du hast mir versprochen… du hast mir felsenfest versprochen auf sie aufzupassen!“, schrie ich wütender denn je, während meine Stimme sich fast überschlug. „Wie… wie konntest du!“, kreischte ich und sah mich hektisch nach irgendetwas um, das ich nach ihm werfen konnte. Die Frau vor mir hob beschwichtigend die Hände. Sie war knapp sechzig, schlank und für ihr Alter sehr agil und beweglich, denn als ich die nächstbeste Blumenvase vor ihre Füße warf, trat sie abrupt einen Schritt zurück und sah erschrocken zu mir hinüber. „Es tut mir Leid, Kathrin! Sie ist auf die Straße gelaufen, ich konnte wirklich nichts tun!“. Ich atmete schwer, hörte, dass sie etwas sagte, verstand es jedoch nicht. Ich hörte lediglich das Blut durch meine Ohren rauschen, spürte nur mein rasendes Herz, dass drohte an dem unendlichen Schmerz zu zerbrechen, den man mir zugefügt hatte. Lange standen wir uns so gegenüber, Auge in Auge. Sie beschwichtigend die Arme erhoben, ich wütend die Fäuste geballt. Stundenlang, so schien es mir, standen wir da, doch plötzlich gaben meine Beine nach und ich landete unsanft auf dem Parkett im Flur des Hauses, in dem ich aufgewachsen war. Mein Kopf sank mir auf die Brust und als ich den Boden vor Augen hatte, lebte ich innerhalb von Sekunden erneut durch, was ich hier bereits erlebt hatte. Wie ich jeden Mittag von der Schule heimkam, die Tür öffnete, meine Jacke und meine Schuhe in den Flur warf und wütend die Treppe hoch stapfte. Wie mich jeden Tag etwas genervt hatte: Meine Lehrer, meine Mitschüler, Klassenarbeiten oder Hausaufgaben. Irgendetwas fand ich immer. Doch all das erschien in diesem Moment unwichtig. Mit meinem Ex-Mann war ich durch diese Tür gekommen – glücklich. Auch als wir heirateten – glücklich. Glücklich und hochschwanger… Mike und ich lernten uns bereits als Kinder kennen, offenbar eine Art Sandkastenliebe, wie man so schön sagt… Nur, dass er nach der Grundschule für zehn Jahre nach Amerika auswanderte, vielmehr seine Eltern – aber er musste eben mit. Was blieb ihm auch anderes übrig, als Kind? Wir blieben nicht in Kontakt, doch dann, als ich zu studieren begann, saß er plötzlich neben mir in der Uni. Ich bin Historikerin und arbeite im Moment in einem Museum mitten in Brestford an einer Ausstellung. Er saß neben mir und es dauerte keine Sekunde, bis wir einander erkannten… und es dauerte keinen Monat, bis wir unser erstes Date hatten… und kein Jahr, bis ich schwanger wurde und wir heirateten. Die zwei schönsten Monate meines Lebens waren die nach unserer Hochzeit, ehe er bei einem Autounfall ums Leben kam. Das war jetzt sieben Jahre her. So verlief also mein Leben in Kurzfassung – bis zum heutigen Tag. Der Boden verschwamm vor meinen Augen, als salzige Tränen ihren Weg auf das Parkett fanden. Unter anderen Umständen hätte meine Mutter mich vermutlich darauf aufmerksam gemacht, dass das Salzwasser dem Parkett schaden könnte, doch so taktlos war noch nicht einmal sie.

 

Rose Evans war sieben Jahre alt, als sie von einem Auto angefahren wurde und an den Folgen ihrer Verletzungen starb. Ihre Großmutter Layla hatte auf sie aufgepasst, während die Mutter des kleinen Mädchens wieder einmal bis spät in die Nacht arbeitete. Ihr Job war zeitaufwendig, vor allem wenn sie – so wie seit einigen Wochen – eine Ausstellung errangieren musste und heute wurde es offenbar ganz besonders spät. Der Blick des kleinen Mädchens wanderte immer wieder zur Uhr, während es später und später wurde. „Schätzchen, komm iss doch noch was, bis Mama kommt!“, sagte ihre Großmutter fürsorglich – doch sie fand es nervig, denn immerhin wiederholte die knapp Sechzigjährige diesen Satz alle paar Minuten. Rose schüttelte nur trotzig den Kopf und sah aus dem Fenster. Dennoch landete ein Teller mit „Irgendwas“ vor ihr auf dem Tisch. „Iss!“, hörte sie nur, ehe die alte Dame die Küche verließ. Wütend auf alles und jeden sprang Rose auf. Wütend auf ihre Mutter, die wie immer zu spät kam, wütend auf ihre Oma, die ihre Meinung nicht akzeptierte und… und überhaupt, einfach sauer, auf kindliche Art und Weise. Wie Kinder eben manchmal wütend sind… Barfuss rannte sie in die Diele mit dem blitzblanken Parkettboden, riss die Haustür auf und rannte hinaus. Am Straßenrand blieb sie stehen. „Mama?“, rief sie. „MAMA?“, brüllte sie in die Nacht hinein, als sie die Scheinwerfer eines Autos sah. „Mama?“, schrie sie diesmal fragend und trat einen Schritt vor. Einen Schritt zu viel. Das Letzte, was sie sah, waren die grellen Lichter eines Autos, das gefährlich schlingerte und dem es unmöglich war zu bremsen…

 

Layla Evans war der Meinung, Rose müsste beinahe am verhungern sein, weshalb sie ihr ihren eigens kredenzten Hühncheneintopf vorsetzte. Die alte Frau wandte sich gleich darauf ihrer Bügelwäsche zu und verschwand in dem Wohnzimmer ihrer kleinen Dreizimmer-Wohnung. Zwar war sie recht fit für ihr Alter, jedoch ließ ihre Seh- und Hörkraft nach, weshalb sie nicht mitbekam, wie die Haustür geöffnet wurde. Auch die quietschenden Reifen auf der regennassen Straße überhörte sie… erst viele Minuten später, als ein kalter Windhauch hinein wehte, wurde sie misstrauisch. „Rose?“, rief sie fragend in Richtung Küche, doch sie bekam keine Antwort… Von wem auch? Rose lebte zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr… Schockiert durch den Anblick der offenen Tür zog sie ihren Morgenmantel über und rannte hinaus auf die Straße. Der Anblick ihrer Enkelin schreckte sie ab und sie wurde kreidebleich im Gesicht. Selbst im spärlichen Licht der einzigen Straßenlaterne weit und breit war nicht zu übersehen, dass Rose tot war. Der leblose Körper des blondhaarigen Mädchens lag in einer Lache ihres eigenen Blutes, die Glieder verrenkt und von sich gestreckte… doch das Schlimmste an diesem herzzerreißenden Anblick war nicht etwa die kuriose Stellung ihrer Körperteile, sondern der entsetzte Blick in den weit aufgerissen, blauen Augen.

 

„Du wolltest… auf sie aufpassen, Mum“, schluchzte ich und hielt den Schmerz kaum mehr aus. Ich bekam keine Antwort mehr, nur ein resignierendes Schweigen seitens meiner verfluchten Mutter. Das war wohl das Produktivste, Hilfreichste, was sie mir sagen konnte.

 

In der Autopsie wurde die Todesursache klar: zu hoher Blutverlust. Der Aufprall hatte die Siebenjährige schwer verletzt, doch hätte man sie vorher gefunden, so hätte man sie vielleicht retten können. Ein weiterer Grund, weshalb Layla Evans für Kathrin nicht mehr existiert. Der Platz in ihrem Herzen, der ihr zugeschrieben war, war mit dem für ihre einzige Tochter gestorben. Sie hatte plötzlich nichts mehr. Keinen Mann, kein Kind. Nur noch ihren Beruf, doch das war ihr das Leben nicht wert. (M)