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Meine Freunde, mein Leben und ich
oder: “Wenn du ich wärst, wer wärst du dann?

Vorwort |Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 | Kapitel 6 | Kapitel 7 | Kapitel 8 | Kapitel 9 | Epilog

Kapitel 7

Ja, ich will

Die Ferien waren zu lang – und zur Hälfte rum. Zum Glück. Dieses Jahr waren sie besonders schrecklich… Drei lange Wochen noch und die letzten Wochen hatte ich eigentlich nur damit verbracht auf Christians Online-Symbol zu warten – und dann abzuwarten, dass er mich anschrieb. Das passierte nie. Nicht einmal. Meistens verlor ich die Geduld und schrieb ganz beiläufig das Standartgespräch: Hi – wie geht’s… und so weiter, ihr kennt das ja. Tiefer gingen diese Gespräche selten und meistens verschwand er schnell – zocken. Allmählich nervte es mich, wie konnte ein Spiel wichtiger sein als seine Freunde? Wir waren doch nach wie vor Freunde. Also musste ich wohl irgendeine Priorität in seinem Leben haben, so wie er in meinem Leben auch Prioritäten besaß… sehr hohe Prioritäten, aber das erwartete ich ja nicht einmal! Das konnte ich nicht erwarten. Aber ein wenig mehr Aufmerksamkeit wär schon schick...

Ich saß auf meinem Bett, fertig angezogen und auf die Uhr starrend. Um halb zwei traf ich mich mit Yuki, wir wollten in die nächste, größere Stadt fahren, um zu bummeln. Während ich die halbe Stunde rumzuschlagen versuchte, die ich zu früh fertig war, sah ich mich in meinem Zimmer um. Es war groß, jedes Kind wäre damit mehr als zufrieden gewesen. Mich nervte es. Vor allem die vielen Ecken und Kanten. Ständig meckerte meine Mutter rum, dass ich den Staub aus den Ecken saugen sollte. Aber ernsthaft, da sah doch niemand hin!

Meine Wände waren rosa. Nicht dieses kräftige pink, sondern ein rosa, das in Richtung Orange geht, denn das hätte es werden sollen. Orange. Jetzt hatte ich ein rosa Zimmer und das sollte so bald wie möglich gestrichen werden. Eigentlich schon in diesen Ferien, aber mein Vater der Wandervogel machte mir da einen Strich durch die Rechnung... leider. An meiner Wand hingen Rosen, von der Kirmes. Doch die hatte ich nicht von irgendeinem Lover oder einem netten Typen geschenkt gekriegt, sondern von Yuki, Fee und Jen... Ein deprimierender Gedanke.

Auf meinen Regalen saßen Kuscheltiere, ein Zeichen für das Kind, das hier wohnte, und in den Regalen standen Cremes und Make-Up. Ein Zeichen für den „ich-will-Erwachsen-sein“-Teenie hier. Ich denke viele „Kinderzimmer“ von Mädels und Jungs in meinem Alter sehen so aus. Einerseits stehen in einer Ecke noch die Puppen, mit denen bis vor wenigen Jahren gespielt wurde, andererseits hängt an der Wand ein Spiegel, auf dessen Ablage Lippenstift und Rouge liegen. Es war diese Zwischenphase, in der nicht jeder gerne feststeckte. Im Grunde fast niemand... denke ich. Nicht umsonst war Suizid in den jüngeren Altersgruppen die zweithäufigste Todesursache der Welt... Irgendwann reichte es vielen einfach. Suizid. Oh ja, ein sehr schönes Thema. Also, ein Thema, über das man sich lange unterhalten kann. Vor neun Jahren begingen in Deutschland ungefähr 11.000 Personen Suizid, 8000 Männer und nur 3000 Frauen. Was bedeutet, dass ich von Grund auf weniger suizidgefährdet bin, als das andere Geschlecht, oder? In den letzten neun Jahren soll sich das verändert haben, behauptete mein Computer, vor dem ich mittlerweile saß und im Internet recherchierte. Ich las weiter und musste lachen. „Viel mehr Männer begehen Suizide, ja, andererseits verüben Frauen wesentlich mehr Suizidversuche ohne tödlichen Ausgang!“. Ich musste einfach weitergrinsen, denn immerhin war ich eine von denen – insofern ich bereits als Frau zählte. Außerdem schien es mir, dass die Frauen einfach zu doof waren um sich anständig das Leben zu nehmen... 

Doch das mit dem „Frausein“. Auch eine Merkwürdigkeit! Auf der Straße konnten sich die Leute offenbar nicht einigen, ob sie mich duzen oder siezen sollen! Mysteriös...

„Männer verwendeten meist Methoden wie das Erhängen oder das Springen aus der Höhe, während Frauen eher zu Tabletten greifen“, ich stöhnte resignierend und stützte den Kopf auf eine Hand, während ich weiterscrollte.

Es folgten viele Prozentzahlen, auf die ich keine Lust hatte, also schloss ich die Seite, packte meine Handtasche und verließ mein Zimmer. Wieder war meine Laune ein wenig ins Negative gezogen worden. Wer beschäftigte sich freiwillig mit den Gedanken an einen Selbstmord? Tut mir Leid, dass ihr das mitlesen musstet... kommt nicht wieder vor. Zumindest nicht in diesem Kapitel.

 

„Ich glaub es nicht, die Bahn ist pünktlich?“, Yuki, die bereits kurz davor gewesen war sich auf den Boden zu setzen und auf den verspäteten Zug zu warten, staunte nicht schlecht, als eine selten erklingelnde Meldung aus dem Lautsprecher den Zug ankündigte, der um exakt 13.59 Uhr im Bahnhof einfahren sollte. Und genau das tat er auch. Beeindruckt nickten wir und stiegen ein, um die nicht mal halbstündige Fahrt nach Siegburg anzutreten. Während wir fuhren unterhielten wir uns über Musik. Unser Musikgeschmack war recht ähnlich, vor allem im Bereich Musical – doch das wisst ihr ja bereits. Aida, Cats, Mamma Mia!, das Phantom der Oper und vor allem der Tanz der Vampire hatten es uns angetan. Bei ihr in der Schule sangen sie viel im Musicunterricht, unter anderem auch aus besagten Musicals. Zudem durfte Yuki für das nächste Schuljahr „KuMu“ wählen. Kunst/Musik. Ich war schon ein wenig neidisch, bei uns an der Schule wurde dieses Fach nicht angeboten, sodass ich Informatik genommen hatte, womit ich nach meiner Drei im letzten Schuljahr absolut nicht zufrieden war. Es machte einfach keinen Spaß ständig theoretischen Kram zu lernen!

„Nächster Halt: Siegburg. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts“. Ich sprang erschrocken auf, aus Angst irgendwas wichtiges verpasst zu haben, doch Yuki beruhigte mich. „He, ruhig Brauner! Alles wird gut, der Zug wird dich nicht mit bis nach Köln nehmen!“, sagte sie, denn sie hatte genauso wenig Ahnung wie ich, wie viele und welche Haltestationen noch dazwischen lagen. Ich wusste nur, dass dort welche waren... obwohl... allmählich war ich mir gar nicht mehr so sicher...

Wir liefen einfach drauf los, schauten in einige Läden mal rein, jedoch ohne was zu kaufen. Wie üblich. Eigentlich waren wir keine Bummel-Fans, wir wollten nur irgendwas unternehmen und uns die Langeweile vertreiben. Doch im Kino lief kein guter Film und Fee war wieder in Duisburg. Jedes Jahr war sie drei Wochen hier und drei Wochen bei ihrer Mutter in der weit entfernten Stadt... schade, ja, aber was will man machen. Ich hatte bereits oft versucht sie zu überreden hierher zu ziehen, doch sie hatte sich bei ihrer Mutter auch ein Leben aufgebaut und gerade jetzt, wo ihr Stiefvater krank war, konnte sie schlecht von dort weg. Mitten im Schuljahr ging eh nichts, als würde sie es nächstes Jahr noch mal probieren. Als Fee von ihrem neuen Freund erzählt hatte, hatte ich bereits die Hoffnung gehegt, dass der sie vielleicht hierher bringen könnte – so wie damals, als alles noch perfekt war. Jetzt war der Perfektionismus doch ein wenig angekratzt. Der Lack war beschädigt, sagen wir es so – und er bekam Risse. Langsam aber sicher. Risse, die unter dem Lack lagen und die man nur sehen konnte, wenn man genau hinsah und ganz genau mitfühlte.

- „Wie findest du die Ringe?“, fragte Yuki und hielt eine Art silberne Spirale mit einem hellen und einem dunklen, violetten Stein hoch.

- „Lilaaaaa“, rief ich aufgeregt und hüpfte von einem Bein aufs andere.

- „Ja, lila“, meinte Yuki und hielt mir die Hand auf die Stirn, während ich den Ring anprobierte. „Fieber hast du aber nicht, oder?“, fragte sie und sah mich an, wie eine Geistesgestörte. Ich schnappte mir unterdessen den anderen Ring, kniete mich mitten in dem großen Schmuckladen auf die Erde, zwischen all den Leuten, und fragte: „Willst du mich heiraten, Schatz?“. Yuki seufzte übertrieben theatralisch und sagte dann ebenso übertrieben: „Ja, ich will!“ – ganz genau wie in einem dieser Kitschfilme, die wir beide so hassten. Wir mussten beide lachten, kauften uns jeder einen Ring und mussten uns fortan keine Gedanken mehr über unsere Beziehung zu Jungs machen. Immerhin waren wir jetzt inoffiziell verheiratet... oder so ähnlich.

 

Naja, ganz so war es nicht, aber zu Hause betrachtete ich den Ring nachdenklich. Ich konnte froh sein jemanden wie Yuki zu haben. Ohne sie gehörte ich vermutlich zu dem, mir nach wie vor unbekannten, Prozentsatz der Jugendlichen, die... ne, ich wollte es in diesem Kapitel ja nicht mehr erwähnen..

 

- „Verschwinde!“.

Sie reagierte nicht.

- „Raus hier!“, brüllte ich und mit einem schelmischen Grinsen auf dem Gesicht setzte meine Schwester Lara sich in meine Hängematte. Wütend stapfte ich auf sie zu und packte sie am Kragen. „Ich sagte raus!“, rief ich und bugsierte die zeternde Elfjährige aus meinem Zimmer. „Ich will fernsehen!“, rief sie und kämpfte gegen meinen Griff an. Die pausbackige, mit kurzen, blonden Locken ausgestattete Nervensäge schimpfte sich meine kleine Schwester. Während sie begann zu heulen, wie immer wenn ihr etwas nicht passte, rief mein Vater bereits nach oben: „Was ist denn los?“. Genervt antwortete ich: „Die will fernsehen, aber ich hab jetzt keine Lust sie in meinem Zimmer zu haben!“. Mein Vater jedoch erwiderte gelassen: „Och, lass sie doch was fernsehen“... die typische Reaktion, wenn sie schrie. Ich verstand ja, dass es niemand aushielt, wenn ein plärrendes Kleinkind die Bude zum wackeln brachte, aber dass ich dafür herhalten musste missfiel mir sichtbar. Wütend starrte ich meine Schwester an, die triumphierend grinsend einen Film in meinem Zimmer einlegte und aus reinem Protest drehte ich meine Musik lauter. Dass das noch mehr Ärger bedeutete war mir klar – aber das war es wert.

Ihr denkt vermutlich, dass meine Schwester eine kleine Schwester ist, wie jede andere auch. Aber das ist sie nicht. Sie ist von Geburt an geistig behindert und das meine ich nicht als einen bescheuerten Witz, sondern als ernste Angelegenheit. Mit ihren elf Jahren ist sie vielleicht auf dem Stand einer Sechsjährigen... Und demnach laut kann sie auch rumplärren. Erklären kann man ihr längst nicht alles, sie braucht für grundlegende Erklärungen schon lange, komplexe Dinge wie: „Du darfst jetzt nicht fernsehen, weil ich gerade Musik höre und meine aktuelle, geistige Verfassung es nicht zulässt, dass ich Schneewittchen und die sieben Zwerge im Hintergrund höre“, muss man gar nicht erst versuchen...

Statt weiter darauf zu hoffen, dass sie sich verziehen würde, richtete ich den Blick auf den Bildschirm und meine Augen leuchteten auf. Da war er ja endlich.

- „Hi“.

Es kam keine Antwort. Ich wartete ein paar Minuten, doch plötzlich verschwand das grüne Online-Symbol und wurde durch ein hässliches, rotes, Offline-Symbol ersetzt, das ich mir viel zu oft anschauen musste. Ich verzog das Gesicht. Naja, vielleicht war seine Internetverbindung ja mal wieder im Eimer? Hoffnungsvoll beschäftigte ich mich anderweitig und würde warten, bis er wieder da war.

Doch er kam nicht wieder.

Wenn ich nur gewusst hätte, dass dieser Satz wahrer nicht hätte sein können.