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Vorwort | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 (folgt)

Kapitel 4

Dunkelheit umfing sie, völlige Dunkelheit. Sie meinte sich erinnern zu können, vor langer, langer Zeit die Augen geöffnet zu haben, doch sicher war sie sich nicht. Denn es machte keinen Unterschied. Zwar blinzelte sie in die endlose Schwärze hinein, doch es half nicht. Dann erinnerte sie sich, dass sie auch einen Körper besaß. Arme, Hände… und mit denen versuchte sie ihren Untergrund genauer zu identifizieren. Sie stießen auf etwas Raues, Hartes. Und dem Geräusch nach, das es verursachte, wenn sie darauf klopfte, war es Holz. Ja, das dumpfe Pochen, das ihre dünnen Fingerchen verursachten war leise und niemand würde es hören können, doch für sie war es eine Bestätigung ihrer Existenz. War sie in einem Raum? Ihre Kehle war ausgetrocknet, ihr Geist umnebelt. Kein Geräusch drang an ihre Ohren, Totenstille umfing sie und sie fühlte sich benommen, so als wäre sie ohnmächtig geworden. Ihre Hände tasteten umher, doch rund um sie herum spürte sie nur das Holz… Oben, unten, links, rechts… nichts als Holz. Urplötzlich bemerkte sie auch, dass die Luft stickig und warm war, und dass es nach Möbelpolitur roch. Während sie sich fragte wo sie war und wie sie hierher gekommen war, durchforstete sie ihre Erinnerung nach irgendetwas, das ihr helfen könnte bei der Suche auf die Antwort dieser Fragen – dann versuchte sie sich aus ihrer liegenden Lage aufzurichten, doch ein stechender Schmerz, der ihren ganzen Körper durchzuckte, ließ vor ihren Augen weiße Blitze auftauchen und sie heiser stöhnend zurück sinken. Ihre Hände berührten derweil etwas Stacheliges… sie tastete danach, doch sie spürte, dass sie erneut die Besinnung verlor. „Eine Rose?“, fragte sie sich und versuchte in der Dunkelheit verzweifelt etwas zu erkennen. Doch dann fielen ihre Augen wieder zu und sie wirkte wie eine Tote, hätte sie jemand sehen können.

 

Er schmunzelte. Er schmunzelte lediglich. Dylan verzog das Gesicht. „Sag mal hast du mir eigentlich zugehört?“, fragte er entrüstet und sah seinen Bruder an, der wie eine Wachsfigur dasaß und sich nicht rührte. Sein Blick hatte kein Ziel, er starrte nur in die Leere. „Ja, ja“, murmelte er als Antwort und seufzte. Dann schüttelte er den Kopf, so als würde er dadurch die Gedanken abschütteln können, die ihn plagten. Dylan hingegen grinste in einem fort, so als gäbe es nichts Lustigeres als diesen Zeitungsartikel, den er soeben ausführlich und mehr als einmal zitiert hatte. Doch sein ruhiger, gelassener und im übrigen viel zu zurückhaltender Bruder hatte natürlich wieder nur mit höflichem Schweigen reagiert, ab und an ein „mh“ oder „ah“, sowie lauter „aha’s“ und „achso’s“, dazu einige „oh’s“ und „ja’s“ eingeworfen und so war sich Dylan wenigstens nicht so vorgekommen, als wäre er tatsächlich die gesamte halbe Stunde lang ignoriert worden.

In Wirklichkeit hatte er nur die Hälfte mitbekommen. Die ersten fünf Minuten des Gesprächs hatte er zugehört, doch als er mitbekam, dass Dylan die ganze Sache ins Lächerliche zu ziehen begann, hatte er weggehört und nachgedacht. Sie lebten im 21. Jahrhundert, die Technologien waren weit entwickelt. Es gab DNA-Tests, gegen die auch sie nicht immun waren. Dazu brauchte die Spurensicherung noch nicht einmal das Blut der betroffenen Person. Vielleicht reichte ein Haar ja bereits aus? Er kannte sich nicht sonderlich gut mit der modernen Technik aus, war er etwas zurück geblieben und war froh, wenn er seinen PC bedienen konnte, sowie den Fernseher und das Radio. Dann war für ihn die Welt in Ordnung. Doch die Polizei musste am Tatort nur ein Haar finden, ein Haar würde genügen und sie würden die kuriosesten Dinge in der DNA des Täters finden. Worüber Dylan lachte, musste er die Stirn runzeln. Von den beiden war Dylan immer der gewesen, der über alles gelacht hatte, der das Leben auf die leichte Schulter nahm und unvorsichtig und unüberlegt handelte. Der Spontane und Vorlaute eben. Doch sein jüngerer Bruder hielt von alledem nichts. Zwar hatte er viel weniger Erfahrung als Dylan, doch merkte man ihm das nicht an. Das was er an Wissen hatte schöpfte er aus so gut es ging und so wirkte er oft überlegener. Er war Perfektionist, realistisch und längst nicht so naiv wie der Rest seiner Familie. Alles in allem war er eher ein Sonderkind. Vermutlich einer der Gründe, weshalb Dylan ihn oftmals wie ein kleines Kind behandelte… plötzlich riss Dylans Stimme ihn erneut aus den Gedanken. „Wie wäre es mit ’ner Party heute Abend?“, fragte er und grinste ihn an. „Paar Weiber aufreißen?“, grinste er weiter, doch als er als Antwort ein Kopfschütteln erhielt, sanken seine Mundwinkel um einiges nach unten. Er stellte die Bierflasche mit Nachdruck auf der Theke ab und verspritzte dabei den halben Inhalt, ehe er wehendem Mantel das Haus verließ und die Tür so fest hinter sich zuknallte, dass sich gewöhnliche Menschen vermutlich wahnsinnig aufgeregt hätten. Nicht aber der Besitzer des kleinen Hauses, der wieder Löcher in die Luft zu starren begann, so als hätte Dylans Drama-Auftritt gar nicht existiert.

 

Ich hatte beschlossen spazieren zu gehen, um in Ruhe nachdenken zu können. Die Sonne schien umbarmherzig auf ganz Brestford hinab, also suchte ich einen Park auf, sodass meine Sonnenallergie sich in Grenzen halten würde. Die Menschen um mich herum waren Silhouetten, der Schmerz in mir das Zentrum meines Seins… das Zentrum, in dem vorher Rose, Layla, Mike und all die anderen gestanden hatten. Doch wie hatte sie es geschafft, sie alle zu verlieren? Der Höhepunkt meines Lebens war die Hochzeit mit Mike gewesen, doch begonnen hatte es mit diesem Autounfall, bei dem er ums Leben gekommen war. Ich hatte begonnen mich abzukapseln von allen anderen. Wollte immer öfter allein sein, fraß die Wut, die Angst und die Trauer in mich hinein, sodass sie mich von innen heraus auffraßen. Meine Freundinnen akzeptierten das, doch nach einem Jahr wurde es ihnen zu viel. Immer wieder hatten sie versucht zu mir durchzudringen, immer wieder waren sie bei mir auf Eis gestoßen. Und das hatte ich erst im Nachhinein bemerkt. Sie waren plötzlich aus meinem Leben verschwunden, weil ich sie nicht hinein gelassen hatte. Dann kam Roses Unfall, bei dem ich nicht nur sie, sondern auch meine Mutter Layla verlor. Gedankenversunken schüttelte ich den Kopf, sah zu Boden und betrachtete die nackten Zehen in meinen Sandalen… als ich plötzlich mit jemandem zusammen stieß. „Oh, Verzeihung“, murmelte ich und er sagte dasselbe – zeitgleich. Ungewollt musste ich lächeln, doch dann sah ich mir das Opfer meiner Tollpatschigkeit genauer an. Muskulöser Körperbau, seidiges, dunkles, lockiges Haar… Unter allen anderen Umständen wäre das wohl ein Wink des Schicksals gewesen. Er war blass. Leichenblass. Und das zu dieser Jahreszeit. Und er lächelte mich verlegen an. „Marc“, stellte er sich hastig vor, als mehrere Sekunden keiner von uns etwas sagte. Er streckte förmlich die Hand aus und ergriff die meine, von der ich nicht wusste, dass ich sie gehoben hatte. Viel zu fesselnd war der Anblick seiner saphirblauen Augen! Er schien nicht mal zu merken, das ich völlig weggetreten war und sprach einfach weiter: „Und ihr Name ist, ma’am?“. Seine tiefe Stimme holte mich aus meinen Gedanken und ich antwortete hastig: „Kathrin, Kathrin Evans!“. Dann erwiderte ich den starken Druck seiner Hand so gut es ging. Vermutlich ging der Kerl ins Fitnessstudio, mehrere Stunden täglich, deshalb war er auch so blass. „Also dann… tschau!“, sagte ich, als er nicht die Anstalten machte, weiter zu gehen. Offenbar peinlich berührt nickte er und drehte sich hastig um. Ich sah ihm nicht nach, beschloss den Macho zu vergessen und mich nicht von dem Lächeln seiner weißen Zähne blenden zu lassen. Solche Begegnungen hatten doch ohnehin keine Zukunft, sagte ich mir und schüttelte den Kopf.

 

Zwei Fotoalben lagen aufgeschlagen vor mir auf dem Boden. Um mich herum drehte die Welt sich und ich machte mir Vorwürfe. Viele Vorwürfe. Die Fotos spiegelten verdrängte Erinnerungen wieder. Erinnerungen an Mike, an glückliche Zeiten mit Layla und Erinnerungen an Rose. „Es tut mir Leid“, murmelte ich in die Stille hinein, die mich umgab. Sie tat weh. Ich vermisste Rose, die am Tisch saß und nichts essen wollte, Rose, die auf dem Boden saß und Hausaufgaben machte, Rose die Fernsehen guckte oder Rose, die schrie, weil sie noch nicht ins Bett wollte. Vor allem aber merkte ich, dass der Mittelpunkt meines Lebens verschwunden war. Alles hatte sich um Mike, Rose und meine Arbeit gedreht. Vielleicht auch um meine Freunde, doch plötzlich hatte ich nichts mehr, was als Mittelpunkt dienen konnte. War ich auf der Arbeit wirklich so weggetreten gewesen? Offenbar bemerkte ich nicht einmal mehr, dass ich schlechte Arbeit ablieferte. Ich hatte mich angestrengt. Oder? Nein. In Wirklichkeit lebte ich nur noch lustlos dahin und wartete auf den Tag, an dem Mike mit Rose auf dem Arm in der Tür stehen würde. Ich hörte die Klingel. Einmal, zweimal.
Erschrocken sprang ich auf, es hatte tatsächlich geklingelt. Ich hatte keine Tränen in den Augen, die ich wegwischen musste und fühlte mich sofort schuldig. Dieses Mal hatte ich nicht geweint. Waren mein Mann und meine Tochter mir etwa egal? Ich öffnete die Tür, riss sie beinahe auf, in der Hoffnung, es könne tatsächlich Mike dort stehen. Mike mit meiner kleinen Rose auf dem Arm. Unserer kleinen Rose. Und tatsächlich als ich die Tür öffnete, sah ich in Roses unverwechselbare Augen!

Die Illusion verschwand zwar sofort wieder, doch für einen Schlag musste mein Herz ausgesetzt haben, um einen Hüpfer zu machen. Es war selbstverständlich nicht Rose, die dort in der Tür stand. Nein, die lag unter der Erde auf einem der vielen Friedhöfe New Yorks. Die Erkenntnis dieser Tatsache versetzte mir gleich den nächsten Schlag. Sie verweste dort. Ihre Eingeweide wurden zersetzt und Bakterien fraßen ihren Körper auf, bis er genauso Erde wurde, wie alles um sie herum. In wenigen Jahren würde nichts mehr von dem zierlichen Mädchen übrig sein. Ich schluckte trocken, während ich mir vorstellte, wie die Zersetzung ihres Fleisches allmählich fortschritt. „Guten… Abend?“, wiederholte der Mann an der Tür und sah mich mit einem Funkeln in den türkisen Augen an. Offenbar hatte er mich bereits begrüßt. „Ihr seit blass“, stellte er besorgt fest und betrat unaufgefordert die Wohnung. Und das schlimmste war, dass ich ihn nicht zurück hielt, sondern hinein ließ! Er blickte sich suchend nach der Küche um, während ich ihm einfach nur hinterher sah. „Schöne Wohnung hast du“, stellte er fest und holte mich damit aus meinen Gedanken. Ich antwortete lediglich mit einem „mh“ und schlurfte ihm dann hinterher. Zwar kannte ich meine Küche, doch ich folgte seinem Blick und sah mich um. Schämte mich für die Spinnenweben in den Ecken, den Staub auf der Tischplatte und der Theke und die Tatsache, dass überall leere Pizzakartons herum lagen. Die letzten Wochen hatte ich mich überwiegend von diesem Fastfood Zeug ernährt. Mikrowellenfutter, wie Layla zu sagen pflegte. Layla… Der Gedanke an meine Mutter ließ mich schaudern. „Alles okay mit dir?“, fragte Dylan, so als wären wir befreundet. Doch um die Betonung und das Duzen, sowie die Tatsache, dass er einfach meine Wohnung betreten hatte, konnte ich mich nicht kümmern. Nicht jetzt. „Ja. Ja, klar“, antwortete ich entschuldigend und hoffte, dass er nicht merkte, dass ich komplett neben mir stand. Natürlich ging es mir blendend. Die Ironie meiner Gedanken erschreckte mich, ich klang beinahe gehässig. Selbsthass war wohl das Letzte, was ich jetzt gebrauchen konnte! „Eigentlich bin ich hergekommen, um dich zum Kino einzuladen!“, meinte er, grinste vor Vorfreude und hielt mir zwei Kinokarten direkt vor die Nase. Ich las nicht, welchen Film er sich anschauen wollte und ehrlich gesagt interessierte es mich auch nicht. „Also, ich… nein…“, stammelte ich, doch da hatte er bereits die Küche verlassen und mir meinen Mantel geholt. In der nächsten Sekunde war er zurück und hielt ihn mir hin. „Dylan, so hießen sie doch, oder… ich“, setzte ich an, doch er unterbrach mein wirres, sinnloses Gerede einfach: „Ein wenig Ablenkung tut ihnen bestimmt gut“. In Wirklichkeit hatte Dylan nicht im Sinn, sie abzulenken. Zwar war ihre Tochter tot, aber, bitte, über so einen Verlust kommt man doch schnell wieder hinweg!

 Ehe ich mich versah saß ich auf dem Beifahrersitz eines BMWs. Irgendein Cabrio offenbar, denn Dylan hatte die unglaubliche Macht das Dach des Autos zu entfernen. Ich wusste nicht, wie er es geschafft hatte mich davon zu überzeugen mit ihm zu kommen, doch er hatte es irgendwie hingekriegt. Ich fühlte mich verdammt unwohl, so dachte ich zunächst, doch dann kam mir der Gedanke, dass es vielleicht eine ganz willkommene Ablenkung sein konnte, mit einem Mann auszugehen. Also sah ich (nun ein wenig selbstbewusster als zuvor) dabei zu, wie Dylan mit betonter Lässigkeit den Schlüssel ins Schloss steckte, den Motor anspringen ließ und dieser sanft zu brummen begann. Dann lächelte er mir zu, ich lächelte zögerlich zurück und er fuhr vom Gehsteig runter auf die menschenleere Straße. Die Fahrt begann schweigend und würde vermutlich auch schweigend endend. Niemand von uns sagte ein Wort, vermutlich wusste Dylan nämlich genauso wenig wie ich, was er sagen sollte. Ich hatte den Kopf an die kühle Fensterscheibe gelehnt und sah den Lichtern der Straßenlaternen dabei zu, wie sie am Fenster vorbei zogen… nun, genau genommen fuhren wir ja an den Laternen vorbei, doch es wirkte so, als ob – ihr versteht schon, was ich meine. Es war sinnlos zu versuchen die Zeit zurück zu drehen. Völlig abstrakt war der Gedanke, Rose würde irgendwann wieder kommen. Ich erinnerte mich an den Moment, an dem Dylan geklingelt hatte – ich war aufgesprungen mit dem Gedanken, dass es Mike und Rose hätten sein können. Verzweifelt rieb ich mir die schmerzenden Schläfen und sah dann wieder aus dem Fenster. Wie naiv musste man sein – und wie groß musste mein Selbstmitleid sein, dass ich mich an eine solche Hoffnung klammerte und alle mit meiner Stimmung mitriss. Kein Wunder, dass niemand sich mehr für mich interessierte.

Plötzlich trat Dylan auf die Bremse. Der Wagen blieb stehen und ich wurde unsanft nach vorne geschleudert. Es wunderte mich ehrlich gesagt, dass keiner der Airbags sich verselbstständigte und ein weißes Kissen sich auf mein Gesicht drückte, doch andererseits war ich froh, dass es nicht geschah. Stattdessen schnitt der Gurt mir irgendwo zwischen Hals und Schulter in die Haut und ich fluchte leise. „Was…?“, hatte ich angesetzt, doch dann stockte mir der Atem. Direkt vor uns auf der Straße lag irgendwas. Irgendetwas… das ganz nach einem Menschen aussah. Das Licht der Scheinwerfer von Dylans Wagen beleuchtete nur einige abstrus verdrehte Gliedmaßen und ich sah bereits nach wenigen Sekunden weg, sodass ich im Nachhinein nicht mehr sagen konnte, ob ich es mir nur eingebildet hatte, dass dort tatsächlich ein Mensch lag.

Dylan war längst aus dem Auto gesprungen und stand bei der Leiche, während ich nach wie vor im Auto saß und Atemwölkchen in die Luft pustete. In der Zeit, in der ich mit zitterndem Atem CO² produzierend in Dylans Wagen saß, telefonierte dieser draußen mit seinem Handy. Ich konnte nicht hören, mit wem er telefonierte, doch für mich war es selbstverständlich, dass er Polizei und Krankenwagen rief. Allmählich beruhigte ich mich und bemerkte, dass ich die ganze Zeit auf die Fußmatte gestarrt hatte. Langsam hob ich den Blick und sah, dass Dylan sein Handy wegsteckte. Mit zitternden Händen schnallte ich mich ab und öffnete die Autotür, doch plötzlich stand Dylan an der Beifahrertür und schüttelte mit kreidebleichem Gesicht den Kopf. „Nein, geh nicht raus. Es ist… nicht schön… anzusehen“, stotterte er vor sich hin und ich nahm an, es läge an der Aufregung. Ungewollt gehorchte ich ihm und legte den Gurt wieder an.

 

Im Nachhinein war ich eigentlich ganz froh, dass ich nicht ausgestiegen war. Der Artikel, welcher nachher in der Zeitung veröffentlicht wurde, reichte mir. Natürlich wurde kein Bild der Leiche gezeigt, aber es wurde ausführlich beschrieben, wie der Tatort wohl ausgesehen haben musste. Anfangs hatte ich Angst, dass die Polizei Dylan und mich wegen des Mordes verdächtigen würde. Aber da keine Beweise dafür gefunden wurden, war ich doch erleichtert. Doch Dylan schien es zu beunruhigen. Die ganze Zeit war er mit den Gedanken woanders, als er mich wieder nach Hause fuhr. Eigentlich hätte ich ja froh sein können, dass wir doch nicht ins Kino gegangen waren, aber ich merkte dann doch, dass ich mich eigentlich darauf gefreut hatte. Ich wollte nicht fragen „Ist irgendwas?“ Denn dies wäre ja wohl mehr als doof gewesen. Stattdessen schwiegen wir uns an. Als wir angekommen waren, öffnete ich die Türe. Als ich gerade aussteigen wollte, drehte ich mich noch einmal um und sagte zu ihm: „Wenn du willst, können wir das ja noch einmal nachholen, also das mit dem Kino.“ Er nickte. Dann stieg ich aus und ging in mein Bett – auf direktem Wege. Meine Worte hatten wie Verzweiflung gewirkt. Verzweifelung deshalb, weil ich offenbar unbedingt eine Bezugsperson brauchte. Jemanden, der mir aus diesem großen, schwarzen Loch hinaus half.

 

Der Grund für Dylans Beunruhigung war ein sehr simpler. Die Todesursache der jungen Frau war einer, der in letzter Zeit häufiger vorkam. Und sich kein einziger Arzt dies erklären konnte. Für ihn war sonnenklar, was dies zu bedeuten hatte, aber natürlich konnte er nichts sagen, denn sonst würden sämtliche Ärzte denken er sei reif für die Psychiatrie. Und somit musste er schnellstmöglich zu seinem Bruder, um sich bei diesem auszuquatschen. Irgendwie ja doch ein wenig feminin, dachte er. (M)