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Vorwort | Kapitel 1 | Kapitel 2 | Kapitel 3 | Kapitel 4 | Kapitel 5 (folgt)

Kapitel 2

Ich hatte ihm lange hinterher gesehen. Sehr lange. Der Smoking stand ihm gut und betonte sein breites Kreuz und zudem hatte sich der Anblick seiner Augen in ihr Gedächtnis gegraben. Doch für mehr als ein gewisser Grad an Zuneigung zum Aussehen des Mannes fand in ihrem Herzen keinen Platz. Nachdem ich meine Gedanken ein wenig in Ordnung gebracht hatte, war ich aufgestanden und gegangen. Mein Getränk stand unangerührt auf dem Tisch und es war nicht zu überhören, dass der Kellner wütend geworden war. Ungestüm nahm er die Limo wieder auf sein Tablett und verschüttete dabei die Hälfte, während er beinahe einen neuen Gast umstieß und mit seinem Chef zusammen prallte, der ihn tadelnd ansah.

Zuhause zählte ich nach, wie viele Feinde ich mir heute und in den letzten Wochen gemacht hatte. Viele meiner Freundinnen hatten sich von mir abgewendet, bei meinem Psychiater konnte ich mich nicht mehr blicken lassen (nicht, dass ich jemals wieder hin wollte) und auch in dieses Café würden mich keine zehn Pferde mehr kriegen – dem Kellner dort war das vermutlich ganz Recht. Dennoch beschäftigte mich auch noch etwas anderes. Ich bekam den Anblick der türkisfarbenen Augen nicht mehr aus meinem Kopf. Doch erst jetzt wurde mir klar, weshalb. Sie leuchteten das gleiche Leuchten, wie Roses Augen es getan hatten. Rose. „Rose… meine Rose…“, schluchzte ich und sank erschöpft auf mein Bett. Ich musste etwas tun, mich irgendwie beschäftigen. „Arbeit!“, dachte ich, sprang plötzlich auf, wischte hektisch die Tränen aus meinem geschwollenen Gesicht und klappte meinen Laptop auf, der auf dem Schreibtisch neben meinem Bett lag. Während der Computer hochfuhr versuchte ich mich auf das zu konzentrieren, was vor mir lag. Ich widmete mich dem aufgeschlagenen Ordner neben mir. Ein Gegenstand, jeder wertvoller als der Vorangegangene, waren dort ausführlich aufgelistet, doch nicht ausführlich genug. Ich war Historikerin und momentan mit der ägyptischen Geschichte beschäftigt. Ich kannte jeden ägyptischen Gott und dessen Berufung mittlerweile auswendig – und wen überraschte es. Die letzten Wochen hatte ich mehr gearbeitet, als in den neun Jahren zuvor, die ich mit diesem großen, ägyptischen Fund verbracht hatte. Absolut jeden Gott. Von Aa, einem der Schebtiu-Schöpfergötter bis hin zu Wosret, der Beschützerin der Jugend. Doch sie alle aufzuzählen würde verdammt lange dauern. Die Vase, mit der ich mich heute beschäftigte, zeigte Isis, die Göttin der Liebe, wie sie ihre Hände über etwas hielt, das wie ein Mensch aussah. In der Mythologie wurde sie als jene bezeichnet, die die große Mutter der alten Ägypter und der Vampire war. Rose hatte einmal einen Vortrag darüber in der ersten Klasse gehal… ich dachte schon wieder an sie. Tief durchatmend versuchte ich mich wieder auf meine Arbeit zu konzentrieren, das Lächeln Roses zu verdrängen, das sich immer wieder in meine Gedanken schob… Eines Tages wurde Isis von ihrem Bruder Seth, gemeinsam mit ihrem Gatten Osiris (der im Übrigen auch Seths Bruder war) zu einem Fest eingeladen. Er führte den Gästen zu diesem feierlichen Anlass eine Art Lade vor und sagte, wer darin vollkommen Platz fände, dem gehöre sein Schrein. Osiris legte sich hinein und sofort schlug Seth den Deckel zu und seine Untertanen nageln die Lade zu – wie einen Sarg. Daraufhin werfen sie die Lade in den Nil, wo sie ins Mittelmeer treibt und bei Byblos an der Küste Phöniziens strandet. Isis hatte sich längst auf die Suche nach ihrem Gatten gemacht und wanderte trauernd mit Anubis (der sog. „Seelenführer“ ins Land der Toten) umher. Angeblich ließen ihre Tränen den Nil anschwellen, bis sie endlich die Lade mit dem toten Osiris fanden und ihn nach Ägypten zurück tragen ließen. Erbost darüber zerstückelt Seth den Leichnam Osiris und zerstreut seine Teile in der ganzen Welt. Isis sammelte die Einzelteile der Legende nach wieder ein und mithilfe Anubis gelang es ihr, den Zerhackten wieder zusammenzusetzen. Der Gott Thot leitete die Bestattung und Isis konnte noch schwanger von Osiris werden, indem sie sich auf seinen Sarg setzte und ihm durch Schlagen mit ihrer Falkenflügel neues Leben einhaucht. „So viel zur Legende“, murmelte ich abschätzig, denn die ägyptischen Legenden klangen kein bisschen plausibel. Aufgrund dieser Tatsache wird heute behauptet, Isis habe den ersten Vampir erschaffen. So ein Schwachsinn. Mir war klar, dass es diese Übernatürlichkeiten nicht gab, das war absurd – dennoch fühlte ich mich stets zur ägyptischen Geschichte hingezogen, denn jede Mythologie faszinierte mich jedes Mal auf ein Neues. Sogar die Siebenjährige Rose war immer davon begeistert gewesen, wenn sie die Kleine mitgenommen hatte, ins Museum.

Es hatte keinen Zweck. Nach kaum einer halben Stunde schlug ich den Ordner zu und ließ mich wieder auf mein Bett sinken. Ich konnte nur an sie denken. Nur an dieses kleine, störrische Mädchen, in dem ich so viel von meinem Ex-Mann sah… Ich hatte alles verloren. Woher nahm ich diese Kraft überhaupt weiterzuleben? Zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren fragte ich mich erneut, ob das Leben auf diese Art und Weise überhaupt noch ein Leben war… oder ob ich nicht einfach aufgeben sollte.

 

Dunkelheit umfing Dylan, als er das Haus seines Bruders betrat. Geschickt öffnete er den Kühlschrank und nahm eine Bierflasche hinaus, das restliche Durcheinander darin ignorierend… Als er das Wohnzimmer betrat, in dem sein herzallerliebster Bruder auf dem Sofa saß, war die Bierflasche plötzlich geöffnet… wohin auch immer der Verschluss und der benötigte Flaschenöffner verschwunden waren. Der junge, attraktive Mann rührte sich nicht, als Dylan das Zimmer betrat und eine Brieftasche neben ihn aufs Sofa warf. Erst als er sich setzte, schwenkte sein Blick vom Fernseher, in dem irgendeine Talkshow lief, zu der Brieftasche neben sich, die eindeutig einer Dame gehörte. Fragend sah er in die türkisfarbenen Augen seines älteren Bruders und schüttelte den Kopf, so als hätte er ihm geantwortet. „Ich fahr heut Abend zu ihr rüber und behaupte, sie habe sie im Café vergessen“, erklärte er schlicht – wieder erntete er nur Kopfschütteln seitens seines Bruders, der die Beweggründe für das Verhalten seines Bruders wirklich selten verstand. Bisher hatte er noch kein Wort gesagt. Er saß nur da in seiner Männlichkeit, die Hände auf den Oberschenkeln ruhend. Die enge Jeans und das ebenso eng geschnittene, weiße Hemd betonten seinen muskulösen Körper, der sich auf einmal merkwürdig anspannte. „Spielkind…“, grummelte er mit einer derart tiefen Stimme, dass sie beinahe verzerrt klang und nicht real. Abgesehen von ihrer Augenfarbe sahen sie sich recht ähnlich. Beide hatten sie eine recht blasse Hautfarbe… Beide hatten den gleichen, kräftigen Körperbau und dunkles Haar, das bei Dylan recht kurz geschnitten, bei seinem Bruder jedoch in Locken vom Kopf hing. Und während Dylans Augen türkis waren, so veränderten die seines Bruders oft ihre Farbe. „Gendefekt“, hieß es in der Analyse ihres Vaters. Eines der vier oder fünf Worte, die er die letzten Jahre von sich gegeben hatte. Seine Augenfarbe sagte viel über seinen Gefühlzustand aus. Im Moment waren seine Augen schwarz. Ein Zeichen dafür, dass er hungrig war…

 

Erschrocken, schweißgebadet und schwer atmend saß ich plötzlich aufrecht im Bett. Offenbar war ich eingeschlafen, doch das Klingeln an der Tür hatte mich aus meinem Alptraum gerissen. Hastig sprang ich auf, wischte mir das verklebte, nussbraune Haar aus der Stirn und ging barfuss den Flur hinab, über die Dielen bis hin zur Haustür, an der es nun bereits zum zweiten Mal schellte. „Herrgott, ist der ungeduldig!“, dachte sie nur und öffnete dann die Tür. Sie sah zerzaust aus, genau genommen machte sie einen schrecklichen Eindruck und auch die Tatsache, dass der gutaussehende Typ von heute Nachmittag in ihrem Türrahmen stand, schien sie eher wenig zu beeindrucken oder gar zum lächeln zu bringen. Er stand in der Tür, wie eine Puppe aus Porzellan, mit einem unsterblichen Grinsen im Gesicht, dass sie an das von Rose erinnerte. Nach wie vor. Er winkte mit ihrer Brieftasche, die sie erstaunlicherweise noch nicht vermisst hatte und lächelte weiterhin sein selbstbewusstes Lächeln… Ich klebte förmlich an seinen Lippen. So selbstbewusst wie Rose, als wären sie miteinander verwandt. Kannte er sie tatsächlich? Nein, bestimmt war das nur ein Trick gewesen, um sich an sie ranzuschmeißen. Wie konnte man derart taktlos sein? Sie hatte Ehemann und Tochter verloren – und er stand dort, breitbeinig in ihrer Tür, grinsend und nach wie vor mit der Brieftasche wedelnd. „Die haben sie im Café vergessen, ma’am!“, sagte er in seinem selbstsicheren Bariton und reichte mir die Tasche. „Viele Dank“, murmelte ich nur und versuchte die Müdigkeit abzuschüttelnd, die mir vermutlich ins Gesicht geschrieben stand. Und dann tat ich etwas, was ich mir selbst nicht zugetraut hatte. Ich schlug dem süßen Typen die Tür vor der Nase zu…

 

„Sie hat einfach die Tür zugeknallt und hat mich stehen lassen!“, fluchte er seinen Bruder an, der immer ein offenes Herz für alles hatte, was ihn belastete, auch wenn es noch so unwichtig war. Doch dieses Mal konnte er nur grinsen. Seinem selbstbewussten Bruder mit dem ach so großen Ego war also endlich mal ein deftiger Schlag verpasst worden – allmählich wurde es aber auch Zeit. Ohne diese Frau zu kennen, fand er sie auf Anhieb sympathisch… Sein Bruder und er saßen an der Bar von Dylans Swimmingpool, der an dessen Villa grenzte, und tranken Bier. Viel Bier. Sehr viel sogar, denn den Kisten nach zu schließen, die auf dem Boden standen und mit leeren Flaschen gefüllt waren, waren sie schon lange hier draußen. Es war bereits nach Mitternacht, aber keiner der beiden zeigte ein Zeichen von Müdigkeit. „Ich sag dir eins, diese Frau ist der Wahnsinn! Solche Titten hast du noch nicht gesehen, Alter!“, rief Dylan aus, der wohl alles andere als der schweigsame Typ war. Seine Stimme hallte von den Steinwänden wider, die rund um den Pool errichtet waren, was dem Ganzen eher ein Gefängnis-Flair gab. Sein Bruder jedoch setzte lediglich die Bierflasche erneut an, leerte sie in einem Zug und griff nach einer neuen. Doch offenbar schien Dylan genau das gewöhnt zu sein, denn er sprach völlig unbeeindruckt von seiner Teilnahmslosigkeit weiter. „Wenn ich an sie denke, dann würde ich am liebsten alles mögliche mit ihr anstellen… wenn ich mir vorstelle wie sie …“, doch nun unterbrach er Dylans Ausführungen, denn mittlerweile war er aufgestanden, hatte die Augen geschlossen, wog sich im Takt einer nicht existenten Musik und schmiegte sich offenbar an ebenso irreale Rundungen… Sein Bruder hob nur die Hand und sah ihn vorwurfsvoll an. Dylan konnte ihn zwar nicht sehen, doch es war, als hätte er seinen Blick dennoch gespürt, denn resigniert lief er rot an und setzte sich hastig wieder auf seinen Barhocker. Sein Bruder hatte nur einen einzigen Gedanken: „Das kann ein langer, langer Abend werden…“. Seufzend stellte er sich genau darauf ein und zeigte tatsächlich eine eiserne Geduld – denn Dylan hatte nicht vor, so bald damit aufzuhören ihm seine Fantasien ausführlich zu beschreiben…

 

Unterdessen war die verwitwete, kinderlose Kathrin Evans längst wieder eingeschlafen. Doch der Traum der sie plagte, war nicht der übliche. Für gewöhnlich erlebte sie Roses Unfall in den verschiedensten Variationen. Als sie an diesem Abend das erste Mal eingeschlafen war, war Rose unter den Vorderreifen eines üppigen Vans gequetscht gewesen, die Augen entsetzt aufgerissen, schreiend und um sich strampelnd. Durch diese Bewegung senkte sich der rechte Vorderreifen des Vans immer tiefer in ihren Körper, bis er ihn schließlich in zwei Teile getrennt hatte – doch Rose schrie weiter. Ihr Schmerz übertrug sich auf Kathrin und so war es kein Wunder, dass sie schweißgebadet aufgewacht war, als Dylan geklingelt hatte. Roses schmerzverzerrtes Gesicht war unbeschreiblich gewesen. Eine Lache von Blut ergoss sich unter ihr, doch sie wurde größer und größer und anstatt, dass Roses Qualen ein Ende gesetzt wurde, blutete sie weiter, so als könne ihr die Verletzung nichts anhaben. Ihr kleiner Körper zuckte, so als stände er unter Elektrizität. Doch das Schlimmste war: Der Wagen bewegte sich nicht. Ganz im Gegensatz zur Realität, denn immerhin hatte der Schuldige Fahrerflucht begangen und sich damit doppelt strafbar gemacht. Dennoch war die Polizei zuversichtlich, dass sie ihn finden würde, denn anhand der Untersuchung von Roses Verletzungen in der Autopsie hatten sie ganz klar feststellen können, um welches Auto es sich handelte. Es war ein Van gewesen, das wusste Kathrin bereits. Die Reifenspuren auf Roses Körper und der Bremsspuren auf der Straße sprachen für sich.

Nein, ihr Traum diese Nacht war ein anderer. Dieser Dylan hatte ihr eindeutig den Kopf verdreht und während er seinem Bruder ausführlich schilderte, was er alles mit ihr anstellen wollte, träumte Kathrin von ihm. Wie er mit ihr ausging, sie küsste und ihr Halt gab… Wie er neben ihr einschlief und schützend den Arm um sie legte und dabei immer dieses Funkeln in den Augen hatte – so wie Rose. Ihre kleine Rose… (M)